Ausschwitz-Prozess

KZ-Sekretärin vor Gericht

(Conrad Taler)

Eher geht das sprichwörtliche Kamel durch ein Nadelöhr, als dass die Justiz zugeben würde, dass ihr Verhalten oft schwer nachzuvollziehen ist. Nach dem Freispruch für die Nazi-Mörder in der Robe und den milden Urteilen gegen Beteiligte an KZ-Verbrechen soll jetzt eine 95 Jahre alte ehemalige KZ-Sekretärin vor Gericht gestellt werden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen vor. Stattfinden soll der Prozess wegen ihrer damaligen Jugendlichkeit vor einer Jugendstrafkammer.

Mir dreht sich der Magen um, wenn ich daran denke, mit welcher Begründung der Bundesgerichtshof als letzte Instanz im Auschwitz-Prozess sich vor Leute gestellt hat, die wegen ihrer Mitverantwortung am Massenmord zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Nicht jeder – so argumentierte er damals –  der in das Vernichtungsprogramm eingegliedert gewesen und dort „irgendwie anlässlich dieses Programms tätig“ geworden sei, sei objektiv an den Morden beteiligt gewesen „und für alles Geschehene verantwortlich“. Mit dieser Begründung bestätigte er den Freispruch eines der Angeklagten.

Vergeblich hat der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer als Initiator des Auschwitz-Prozesses versucht, diese Denkweise zu überwinden. Nicht weil ihm daran lag, möglichst viele Schuldige hinter Gitter zu bringen, sondern weil er dem deutschen Volk vor Augen führen wollte, wohin blinder Gehorsam und Mitläufertum führen. Er verlangte am Schluss der Beweisaufnahme vom Gericht, es möge die Angeklagten darauf hinweisen, dass in ihrer Anwesenheit in Auschwitz eine „natürliche Handlungseinheit gemäß § 73 StGB gesehen werden kann, die sich rechtlich, je nach den subjektiven Voraussetzungen, als psychische Mittäterschaft“ qualifiziere.

Die Vertreter der Anklage kamen damit im Prozess nicht durch. Abertausende Naziverbrechen blieben in der Folgzeit ungesühnt. Den Rest besorgte ein ehemaliger Nazirichter als hochrangiger Mitarbeiter im Bundesjustizministerium mit einer im Ordnungswidrigkeitengesetz (!) von 1968 versteckten Verjährungsregelung, der die Abgeordneten des Bundestages, – zu ihrer Schande sei es gesagt – ihren Segen gaben. Vier Jahrzehnte später dämmerte es einer nachgewachsenen Juristengeneration, dass da etwas zu bereinigen war. So kam es im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung zu dem Prozess gegen den ehemaligen KZ-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor, Demjanjuk, der 2011 ohne den Nachweis einer konkreten Tötungshandlung wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 28.000 Fällen zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

Ähnlich erging es dem so genannten Buchhalter von Auschwitz, Gröning, der dort als 18jähriger SS-Angehöriger die Vermögenswerte der ermordeten Opfer registriert hat. Er wurde wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren verurteilt. Nun also soll sich nach dem Willen der Staatsanwaltschaft also eine 96 Jahre alte ehemalige Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof vor Gericht verantworten. Der Frau wird vorgeworfen, die Tötungsmaschinerie der Nazis unterstützt zu haben. Ihr Arbeitsplatz in der Kommandantur lag direkt am Haupteingang. Trotzdem will sie von den Mordtaten im Lager erst nach dem Krieg erfahren haben.

Die Staatsanwaltschaft argumentiert, wie Fritz Bauer argumentiert hat. Er sagte: „Wer an dieser Mordmaschine hantierte, wurde der Mitwirkung am Morde schuldig, was immer er tat.“ Ob sich das Landgericht Itzehoe dieser Meinung anschließt, bleibt abzuwarten. Es muss nun prüfen, ob es die Anklage zulässt. Eine Zeitung führte das Verfahren gegen die KZ-Sekretärin auf eine neue Rechtsauffassung zurück. Diesen Gedanken hat der Bundesgerichtshof jedoch bei der Bestätigung des Urteils gegen Gröning weit von sich gewiesen. Die darin niedergelegte Rechtsaufassung stehe „nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofes“, heißt es in dem entsprechenden Beschluss vom 20. November 2016.

Bei dem Verfahren in Itzehoe geht es nicht in erster Linie darum, Schuld zu sühnen und den Hinterbliebenen Genugtuung zu verschaffen, sondern um die Erinnerung an ein Geschehen, an dessen Beginn Hass und Hetze standen und das mit der fabrikmäßigen Ermordung von Menschen endete. Das Wissen darum darf nie verblassen: Es immunisiert gegen die Naziparolen von heute.

Quelle: Ossietzky, Nr. 4 (2021)


Die Schwarze Wand

Epilog zu Angela Merkels Besuch in Auschwitz

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Bei ihrem Besuch kürzlich in Auschwitz ging es Angela Merkel wie anderen vor ihr – sie rang nach Worten.  „Heute hier zu stehen und als deutsche Bundeskanzlerin zu Ihnen zu sprechen, das fällt mir alles andere als leicht.“ Vor der Schwarzen Wand, der berüchtigten Hinrichtungsstätte in Auschwitz, an der Tausende, darunter auch Minderjährige, durch einen Schuss in den Hinterkopf ermordet wurden, stand Angela Merkel in tiefes Schweigen versunken. Das Bild ging um die Welt.

Was damals in dem düsteren Hof zwischen den Todesblocks 10 und 11 in Auschwitz geschah, haben Überlebende als Zeugen im Frankfurter Auschwitz-Prozess geschildert, und ich war dabei. Ihre Aussagen verfolgen mich noch heute bis in den Schlaf wie ein einziger furchtbarer Alptraum. In meinen Prozessberichten habe ich versucht, alles festzuhalten – soweit mir das möglich war. Eines Tages wird sich niemand mehr vorstellen können, was damals geschah.

Auszug aus meinem Buch Asche auf vereisten Wegen: „Erschütternd war die Aussage des polnischen Zeugen Stefan Boratynski. Er war in einem der Todesblocks unter die zu Erschießenden eingereiht worden und trug bereits auf der nackten Haut die mit Tintenstift geschriebene Nummer, anhand deren die Ermordeten später in den Todeslisten ‚abgesetzt’ wurden. Wie durch ein Wunder kam er mit dem Leben davon; bei der Zählung der Todeskandidaten war einer zu viel.

Boratynski musste später die Leichen seiner ermordeten Kameraden beiseite tragen. Er sah, dass der Angeklagte Wilhelm Boger die Opfer aus kurzer Entfernung mit einem Schuss in den Hinterkopf niederstreckte. Während die Unglücklichen an die Schwarze Wand geführt wurden habe Bogen ihnen ‚Kopf hoch!’ zugerufen. Die höhnische Aufforderung sollte bewirken, dass die Opfer ihre gesenkten Köpfe hoben, damit Boger seine Schüsse besser ansetzen konnte.“

Der SS-Oberscharführer war Gestapo-Mitarbeiter in der Politischen Abteilung von Auschwitz. Der Rang entsprach dem eines Feldwebels bei der Wehrmacht. Wegen seiner Grausamkeit und seiner Brutalität war Boger im ganzen Lager gefürchtet. An der Schwarzen Wand starben nicht nur Menschen, die sich nach Meinung der SS etwas hatten zuschulden kommen lassen, sondern auch Menschen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – dorthin verirrt hatten. Aussage des ehemaligen Häftlings Jan Josef Farber  aus der Tschechischen Republik:

„An einem Herbsttag 1943 sah ich morgens sehr früh im Hof von Block 11 ein kleines Mädchen. Es war ganz allein. Es hatte ein rotes Kleidchen an. Es schaute ab und zu an sich herunter und wischte sich den Staub von den Schuhen. Kurz darauf kam Boger in den Hof. Er nahm das Kind an der Hand und stellte es mit dem Gesicht gegen die Schwarze Wand. Boger ging zurück. Das Kind schaute sich noch einmal um und Boger drehte ihm das Gesicht wieder gegen die Wand. Dann erschoss er das Kind.

Während seiner Aussage blickte Farber immer wieder zu dem Angeklagten Klaus Dylewski.

‚Ich möchte da noch eine Sache von Block 11 erzählen’, hob er an. Eines Tages sei eine vierköpfige Familie  in den Hof von Block 11 gebracht worden. Es habe sich um einen etwa 35jährigen Mann gehandelt, der einen Jungen an der Hand hielt, und um eine jüngere Frau, die ein Kind auf dem Arm trug. ‚Dann kam ein SS-Mann und schoss sofort dem Kind, das die Mutter auf dem Arm trug, in den Kopf. Die Mutter fiel mit dem Kind zu Boden. Er erschoss dann die Mutter, den Mann und auch den Jungen. Hier sehe ich den SS-Mann wieder.’ Mit ausgestrecktem Arm zeigte Farber auf den Angeklagten Dylewski, der sich bereits erhoben hatte. ‚Ich kannte ihn unter dem Namen Klaus.’“

Redaktionelle Anmerkung:

Unser Autor Kurt Nelhiebel hat den großen Auschwitz-Prozess als Journalist miterlebt. Seine Berichte erschienen unter anderen in der Zeitung Die Gemeinde, dem offiziellen Organ der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Sein Buch Asche auf vereisten Wegen erschien unter seinem Autorennamen Conrad Taler inzwischen in zweiter Auflage im Kölner PapyRossa Verlag. Dr. Marcel Atze schrieb 2003 im Newsletter Nr. 25 des Fritz Bauer Instituts: „Die Berichte von Conrad Taler sind außerordentlich lesenswert, weil der Autor eine brillante Beobachtungsgabe besitzt und weil ihn eine ungeheure Auditivität auszeichnet. Talers Buch ist jedem zu empfehlen, der sich rasch über den Verlauf des Auschwitzprozesses, über dessen Höhepunkte und die im Gerichtssaal ausgetragenen Konflikte ein Bild machen möchte. Jeder wird zudem durch Conrad Talers außerordentliches sprachliches Darstellungsvermögen belohnt.“

Quelle: Weltexpresso, 13. Dezember 2019


Der BGH und die „kleinen Rädchen“

(Conrad Taler)

In Schillers Drama „Wallenstein“ empfängt der kaiserliche Feldmarschall Christian Freiherr von Ilow den kroatischen General Isolani mit den Worten: „Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt. Der weite Weg, Graf Isolan, entschuldigt Euer Säumen.“ Das möchte man auch dem Bundesgerichtshof zurufen, der seine Rechtsprechung gegenüber Naziverbrechern in einer Weise verändert hat, die Wolfgang Janisch in der Süddeutschen Zeitung vom 29. November 2016 sagen ließ, der Bundesgerichtshof (BGH) habe damit Rechtsgeschichte geschrieben.

Fast ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, ehe sich das höchste deutsche Strafgericht mit der Bestätigung des Urteils gegen den ehemaligen „Buchhalter von Auschwitz“ Oskar Gröning dazu durchrang, Beteiligte an dem Geschehen auch dann schuldig zu sprechen, wenn ihnen die Beteiligung an konkreten Mordtaten nicht nachgewiesen werden kann. Das ging nicht ohne rabulistische Verrenkungen, das eigene Nest durfte nicht beschmutzt werden. Ausdrücklich betont der BGH in seinem Beschluss vom 20. September 2016, die darin dargelegte Rechtsauffassung stehe „nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofs“. Wie soll man das verstehen? Am 20. Februar 1969 entschied der Bundesgerichtshof, dass sich nicht „jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz eingegliedert“ gewesen und dort „irgendwie anlässlich dieses Programms tätig“ geworden sei, „objektiv an den Morden beteiligt“ habe „und für alles Geschehene verantwortlich“ sei.

Damit bestätigte der BGH den Freispruch eines der Angeklagten im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, der nach jetziger Rechtsauffassung verurteilt werden müsste. Den Beteiligten scheint die Unvereinbarkeit der Argumentation bewusst gewesen zu sein. Salopp helfen sich die Bundesrichter aus der Klemme: „Dem ist indes nicht näher nachzugehen.“ Dazu seien die Sachverhalte zu unterschiedlich. Dem Angeklagten Gröning werde nicht „alles“ zugerechnet, was in Auschwitz geschehen sei. Er sei auch nicht „irgendwie anlässlich des Vernichtungsprogramms“ tätig gewesen. Vielmehr seien „konkrete Handlungsweisen des Angeklagten mit unmittelbarem Bezug zu dem organisierten Tötungsgeschehen in Auschwitz“ festgestellt worden; sie gelte es zu bewerten. Für derartige Sachverhalte sehe sich der Senat in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung. Zu den konkreten Handlungen des SS-Mannes Gröning rechnet der BGH neben den „Rampendiensten“ bei der Ankunft von Transporten deportierter Opfer die Bewachung des zurückgelassenen Gepäcks und die Aufgabe, das Geld der Deportierten zu sortieren, zu verbuchen und nach Berlin zu transportieren. Nur weil den nationalsozialistischen Machthabern eine organisierte „industrielle Tötungsmaschinerie“ mit willigen und gehorsamen Untergebenen zu Verfügung stand, hätten die Verbrechen begangen werden können.

Mit dieser Argumentation bewegt sich der BGH einerseits im Rahmen der alten Rechtsprechung, andererseits bestätigt er nachträglich halbherzig die Rechtsauffassung des 1968 verstorbenen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, wonach die Tötungsmaschinerie der Nazis – vereinfacht gesagt – ohne die „kleinen Rädchen“ nicht hätte funktionieren können. „Wer an dieser Mordmaschine hantierte“, so Bauers These, „wurde der Mitwirkung am Morde schuldig, was immer er tat, selbstverständlich vorausgesetzt, dass er das Ziel der Maschinerie kannte, was freilich für die, die in den Vernichtungslagern waren oder um sie wussten, von der Wachmannschaft angefangen bis zur Spitze, außer jedem Zweifel steht.“ Am Ende der Beweisaufnahme im Auschwitz-Prozess beantragte die Anklagevertretung auf Drängen Fritz Bauers, das Gericht möge die Angeklagten darauf hinweisen, dass in ihrer Anwesenheit in Auschwitz eine „natürliche Handlungseinheit gemäß § 73 StGB“ gesehen werden könne, die sich rechtlich als psychische Beihilfe oder Mittäterschaft zu einem einheitlichen Vernichtungsprogramm qualifiziere und eine Verurteilung auch ohne konkreten Tatnachweis ermögliche. Diese Rechtsauffassung wurde vom Gericht und vom Bundesgerichtshof verworfen. Wie so oft war Fritz Bauer seiner Zeit weit voraus. Ob die jetzige Entscheidung wirklich das späte Schlusswort des BGH zu einem unseligen Kapitel auch seiner eigenen Geschichte war, wie Wolfgang Janisch in der Süddeutschen Zeitung schreibt, wird sich noch zeigen. Auch da gilt, was Fritz Bauer kurz nach Beginn des Auschwitz-Prozess zu bedenken gab: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“

30. November 2016


Offizielles Gedenken und politische Wirklichkeit

50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess

Die Deutschen lieben die Wahrheit nicht,
wollen sie nicht wissen, kennen nicht ihren
Reiz und ihre reinigende Kraft.

Thomas Mann an Hermann Hesse
12. Oktober 1946

In seiner Rede zum 50. Jahrestag des Bestehens der deutsch-israelischen Beziehungen sagte Bundespräsident Joachim Gauck am 12. Mai 2015: „Wir werden nicht zulassen, dass das Wissen um die besondere historische Verantwortung Deutschlands verblasst.“ Sonderlich erfolgreich waren die politisch Verantwortlichen damit offenbar nicht. Einer Bertelsmann-Studie zufolge möchten 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“. (Süddeutsche Zeitung, 12. Mai 2015, S. 6). Offensichtlich gibt es in der deutschen Erinnerungskultur eine Lücke. „Man übergeht, dass es den deutschen Widerstand gab“, klagte der deutsch-französische Historiker Alfred Grosser am 70. Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus im Interview mit einer deutschen Zeitung. (Weser-Kurier, 8. Mai 2015). Dabei waren die Angehörigen des deutschen Widerstandes mit ihren „moralischen Grundentscheidungen“ vielen anderen voraus, konstatierte Willy Brandt ein Jahr vor seinem Tod. Winston Churchill erinnerte 1947 daran, dass in Deutschland eine Opposition lebte, „die zu dem Edelsten gehört, was in der Geschichte der Völker je hervorgebracht worden ist. Diese Männer und Frauen kämpften ohne Hilfe von innen und außen, einzig angetrieben von der Unruhe ihres Gewissens. Ihre Taten sind das unzerstörbare Fundament eines neuen Aufbaus.“

Vielleicht sollten in allen deutschen Schulen, dem französischen Beispiel folgend, einmal im Jahr Bekenntnisse deutscher Widerstandskämpfer verlesen werden, um etwas von dem Geist zu vermittelten, der die Gegner der Nazityrannei beseelte. „Wie wir der Luft bedürfen, um zu atmen, des Lichts, um zu sehen, so bedürfen wir edler Menschen, um zu leben“, sagte die Schriftstellerin Ricarda Huch im Gedenken an die ermordeten deutschen Widerstandskämpfer. „Sie reißen uns aus dem Sumpf des Alltäglichen; sie entzünden uns zum Kampf gegen das Schlechte.“ Eine der Erfahrungen des deutschen Widerstandes besagt, dass die Ausgrenzung von Minderheiten niemals geduldet werden darf; denn damit begann das, was mit Auschwitz endete.

Wer sich ein Bild vom Ausmaß des Verbrechens machen will, das in Auschwitz begangen worden ist, der möge sich daran erinnern, dass bei der Tsunami-Katastrophe in Ostasien mehr als 200 000 Menschen dem blinden Wüten der Naturgewalt zum Opfer gefallen sind. Das Entsetzen darüber war groß. In Auschwitz wurden fünfmal soviel Menschen ermordet. Einige Beteiligte an dem beispiellosen Verbrechen mussten sich Anfang der 1960er Jahre in Frankfurt am Main vor Gericht verantworten. Die Verkündung des Urteils in dem Jahrhundertverfahren jährte sich am 19. August zum 50. Male. Ich habe den Prozess als Journalist miterlebt.

Ohne Erinnern keine Überwindung des Bösen

Wie es zu dem Massenmord kommen konnte, wie alles begonnen hat damals in Deutschland, ist vor allem jungen Menschen weitgehend unbekannt. Manches sah zunächst harmlos aus. Auch damals bekämpften Rechtsextremisten und Nationalkonservative den demokratischen Rechtsstaat zunächst nur mit Worten. Schamlos beuteten sie die Not von Millionen Arbeitslosen für ihre Propagandazwecke aus. Zugleich entfachten sie eine Hetzkampagne gegen die vermeintlich Schuldigen an der deutschen Niederlage im ersten Weltkrieg. Zielscheibe der Verleumdungen waren Juden, Marxisten und Intellektuelle, Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und bürgerlich-liberale Politiker, die als undeutsch und national unzuverlässig hingestellt wurden.

Wer sich mit den Anfängen der Naziherrschaft vertraut macht, wird die Warnzeichen für neues Unheil rechtzeitig erkennen. Wer weiß, was in Auschwitz geschah, ist für immer gefeit gegen alles, was auch nur im Entferntesten mit Nazi-Ungeist zu tun hat. Ohne Erinnerung an das Böse, so Bundespräsident Roman Herzog 1996, gibt es weder die Überwindung des Bösen, noch Lehren für die Zukunft. Dass Angehörige eines Kulturvolkes in der Mitte Europas Menschen fabrikmäßig töteten, dass sie Schlachthäuser für Menschen errichteten, darüber werden noch in hundert Jahren Menschen in aller Welt grübeln.

Wenn von den Gräueltaten der Nazis die Rede ist, antworten manche, Verbrechen habe es auch anderswo gegeben. Das stimmt, aber niemals und nirgendwo sonst wurden völlig schuldlose Menschen so systematisch und mit industrieller Perfektion getötet wie in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern, nirgendwo sonst wurden den Ermordeten die Goldzähne ausgerissen und zur Devisenbeschaffung eingeschmolzen, nirgendwo sonst wurden die Haare der Opfer als Material zur Filzherstellung verwendet. Lange Zeit wurde Auschwitz in den endlosen Weiten des Ostens vermutet, und nicht wenige entschuldigten ihr Unwissen mitunter gerade damit. Tatsächlich lag Auschwitz nur 40 Kilometer hinter der alten deutschen Grenze, aber einer der akademisch gebildeten Mörder fühlte sich dort – wie er nach Hause schrieb – am anus mundi, am Arsch der Welt.

Wie alles begann

Wie Schlachtvieh wurden die Opfer in Güterwagen aus allen besetzten Ländern Europas in die Todeslager transportiert. Noch auf der Bahnrampe rissen SS-Angehörige die Familien auseinander. Der arbeitsfähige Vater und der Bruder mussten nach rechts, die Mutter mit dem Kleinkind auf dem Arm und die Oma nach links. Sie wurden auf direktem Weg in den Tod geschickt. Vor den Gaskammern mussten sie sich – angeblich zum Duschen – nackt ausziehen. Eng aneinander gedrängt starben sie an den giftigen Dämpfen eines Mittels zur Schädlingsbekämpfung. Zyklon B hieß das Blausäurepräparat.

Die für arbeitsfähig gehaltenen Ankömmlinge vermietete die SS an deutsche Firmen, die Auschwitz in Erwartung billiger Arbeitskräfte als Standort für neue Produktionsstätten ausgewählt hatten. Die Opfer selbst bekamen keinen Lohn. Nutznießer waren namhafte Unternehmen wie Krupp und der Chemiekonzern IG Farben. Wenn die Kräfte der Arbeitssklaven versiegten, wenn sie arbeitsunfähig wurden, kamen auch sie in eine der Gaskammern oder wurden mit Phenol durch einen Stich mit der Spritze direkt ins Herz getötet. Einer dieser „Phenolspezialisten” saß während des Auschwitz-Prozesses nur wenige Meter von mir entfernt. Nichts in seinem Gesicht deutete auf seine grauenvolle Vergangenheit hin.

Die planmäßige Ermordung von Millionen Menschen war nicht kriegsbedingt, sondern ein Ergebnis des Rassenwahns der Nazis. Er fiel in Deutschland auf fruchtbaren Boden. Dabei stellten die Juden eine verschwindende Minderheit dar. Ihr Anteil an der deutschen Bevölkerung betrug nur ein Prozent. Dennoch behaupteten die Nazis, an allem Unheil seien die Juden schuld. Ihr Blut sei verdorben und dürfe sich niemals mit dem Blut von Nichtjuden vermischen. Intime Beziehungen eines Juden zu einer nichtjüdischen Frau wurden mit dem Tode bestraft.

Bevor die Nazis daran gingen, die Juden aus der menschlichen Gemeinschaft auszuschließen, unterdrückten sie brutal ihre politischen Gegner. Als erste kamen Kommunisten und Sozialdemokraten an die Reihe. Dann wurden Gewerkschafter, liberale Politiker und Intellektuelle in Konzentrationslager und Gefängnisse gesperrt. Konservative Politiker, die nicht mit den Wölfen heulten, blieben gleichfalls nicht verschont. Aufrechte Priester mussten sterben, weil sie Gott mehr gehorchten als den Machthabern des so genannten Dritten Reiches. Neben Juden, Sinti und Roma und anderen starben in Auschwitz auch viele politische Gegner Hitlers.

Bleibende Gefahr

Auschwitz, das war nicht nur der fabrikmäßige Massenmord in den Gaskammern, sondern das waren auch die Todesschüsse an der Schwarzen Wand, die medizinischen Versuche an Kindern und das waren die Stehzellen, in denen man die Opfer qualvoll verdursten und verhungern ließ. Die Täter mordeten nicht unter Zwang, sie befanden sich nicht in einem Befehlsnotstand. In ihrem persönlichen Hass auf Juden und Kommunisten stimmten sie völlig mit der Naziführung überein.

Wer nicht mitmachen wollte, wem vielleicht das Gewissen schlug, der konnte ohne disziplinarische Folgen seine Versetzung an die Front beantragen. Das ist durch Dokumente belegt und Zeugen im Auschwitzprozess haben das bestätigt. Dieses freiwillige Mittun ist das eigentlich Unfassbare. In der Neigung der Menschen, sich den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen, in ihrer Angst vor dem Nein zu staatlichem Unrecht, schlummert eine bleibende Gefahr für die Zukunft: Allzu Viele haben ein kurzes Gedächtnis, lassen sich manipulieren, im Zeitalter der elektronischen Massenmedien leichter denn je.

Es hat lange gedauert, bis einige Beteiligte an den Auschwitz-Verbrechen 1963 in Frankfurt am Main vor Gericht gestellt wurden. Ich war als Journalist dabei, als die Überlebenden der Todesfabrik in den Zeugenstand traten und in Gegenwart ihrer Peiniger zu Protokoll gaben, was in Auschwitz geschah. Auf der Anklagebank sah ich Männer mit Durchschnittsgesichtern, keine Monster mit blutunterlaufenen Augen. Kaufleute waren darunter, Handwerker, Apotheker und Zahnärzte, Menschen wie du und ich. Aber sie verkörperten ein Grauen, das mich bis in den Schlaf hinein verfolgte.

Als die Verhandlung begann, war ich Mitte dreißig. Über die Todesfabrik im besetzten Polen hatte ich schon einiges gelesen. Dennoch erlebte ich den Prozess wie einen Alptraum. Quälend war jedes Mal auch die Rückkehr in den Alltag. Musste das Leben nicht stillstehen angesichts des Grauens, das eben noch im Gerichtssaal auf mich eingestürmt war? Aber draußen nahm alles seinen gewohnten Gang. Geschäftig wie immer eilten die Menschen hin und her und ihre unbeteiligten Gesichter wirkten auf mich wie Masken aus einer anderen Welt. In den Prozessberichten erfüllte ich meine Chronistenpflicht nach bestem Wissen und Gewissen. Ein neutraler Beobachter war ich nicht. Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das.

Über den Tag der Urteilsverkündung schrieb ich: „Dieser 19. August des Jahres 1965 ist ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Stadt wälzt sich der Verkehr, Autos stauen sich an Ampeln, Trambahnen schieben sich durch das Gewühl, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit, auf dem Schulhof nebenan lärmen Kinder. Und doch ist dies ein besonderer Tag, denn inmitten dieser Stadt wird heute das Urteil in einem Verfahren verkündet, das in der Geschichte ohne Beispiel ist.

Die Angeklagten werden hereingeführt, als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der ehemalige Gestapomann Wilhelm Boger, der „schwarze Tod” von Auschwitz, trägt wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verliest der Gerichtsvorsitzende Hofmeyer das Strafmaß für die 20 Angeklagten: Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen 3 und 14 Jahren und dreimal Freispruch – das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses.

Ohne ein menschliches Wort

In der Urteilsbegründung setzte sich der Vorsitzende mit dem Einwand auseinander, dass hier nur die „kleinen Leute” vor Gericht gestanden hätten. Auch diese „kleinen Leute” seien damals nötig gewesen, um den Plan der Vernichtung von Menschen auszuführen. Sie seien so nötig gewesen wie die Großen, die das Gesamtgeschehen eingeleitet und vom Schreibtisch aus kontrolliert hätten. Den Angeklagten warf er vor, nichts zur Erforschung der Wahrheit beigetragen, sondern geschwiegen und zum Teil die Unwahrheit gesagt zu haben.

Bis auf zwei Ausnahmen verloren die Angeklagten kein menschliches Wort des Bedauerns für die Opfer. Die meisten zeigten nur Mitleid mit sich selbst. Das größte Verfahren der deutschen Justizgeschichte erstreckte sich über 20 Monate und 183 Verhandlungstage. 356 Zeugen traten vor das Gericht, die Hälfte von ihnen aus Deutschland, die anderen aus weiteren 17 Ländern. Die schriftlichen Unterlagen über das Prozessgeschehen füllen 100 Aktenbände mit insgesamt 18 000 Seiten.

Das Echo ist unterschiedlich ausgefallen. Es gab scharfe Kritik und zustimmende Äußerungen: den einen waren die Strafen zu gering, andere hielten sie für gerecht. Aber selbst wenn alle Angeklagten die höchste damals denkbare Strafe bekommen hätten, bliebe Auschwitz letztlich ungesühnt. Es gibt keine Strafe, die dem Unfasslichen gerecht werden könnte. Die nachfolgenden Generationen können nur eines tun: durch ihr klares Nein gegenüber allen Versuchen, das Geschehene zu bagatellisieren oder zu relativieren, den Opfern ihren Respekt zu erweisen. Damit schützen sie sich selbst vor einem wie auch immer gearteten Rückfall in die Unmenschlichkeit.

Mühsamer Kampf gegen das Vergessen

Seit der Verkündung des Urteils sind fünfzig Jahre vergangen. Wie verhielt es sich in dieser Zeit mit dem Interesse an Auschwitz? Als mir vor Jahren die Idee kam, meine Berichte vom Auschwitzprozess als Buch der Jugend von heute zugänglich zu machen, ahnte ich nichts von den Schwierigkeiten, mit denen ich zu tun bekommen sollte. Sechs Jahre dauerte meine Suche nach einem Verlag. Dabei machte ich die Erfahrung, dass alle gern von der Notwendigkeit des Erinnerns reden, aber ungern in diese Notwendigkeit investieren. Schließlich griff der PapyRossa Verlag in Köln die Idee auf. Umgesetzt werden konnte sie, weil die Bundeszentrale für politische Bildung das Projekt unterstützte.

Der Kampf gegen das Vergessen war stets mühsam. Mitte der siebziger Jahre, als die Wiederverwendung alter Nazis kein Thema mehr war, wohl aber die Jagd auf Kommunisten und so genannte Radikale im öffentlichen Dienst, zu jener Zeit also arbeitete ich als Redakteur und Kommentator bei einer als liberal geltenden deutschen Rundfunkanstalt. Zum 30. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen bot ich dem zuständigen Kollegen einen Fünf-Minuten-Beitrag an. Der war von dem Thema wenig erbaut. Mit diesen alten Geschichten müsse doch endlich mal Schluss sein, meinte er. Nach einer kurzen Diskussion wurde der Beitrag dann doch gesendet.

Seit 1996 wird der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz offiziell als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Es genügt aber nicht, einmal im Jahr die Vergangenheit als Mahnung für die Zukunft zu beschwören. Einer der wenigen, der frühzeitig vor einem Rückfall in frühere Denkweisen gewarnt hat, war der Initiator des Auschwitz-Prozesses, der hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer. Er hat eindringlich beschrieben, wie es dazu kommen konnte, dass die erste deutsche Republik den gewalttätigen Rechtsextremismus mit dem Hakenkreuz in die Hände fiel.

Der Sündenbock-Mechanismus

„Statt einer ‘Bewältigung der Vergangenheit’, die auch damals notwendig war und die einen harten Willen zur Wahrheit erforderte, zog man den Betrug und Selbstbetrug eines angeblichen Dolchstoßes vor und suchte krampfhaft nach Sündenböcken. Man fand sie bald in ‘Marxisten’, bald in Juden. Jeder Sündenbock-Mechanismus erwächst aus Charakterschwäche; er ist ein infantiler Zug und alles andere als eine männliche Reaktion. Je schwächer die Leute sind und je mehr sie von Minderwertigkeits-Komplexen geplagt werden, desto mehr rufen sie nach Härte und desto gewalttätiger und brutaler treten sie auf, um ihr eigenes Ungenügen und das Fiasko ihres Daseins zu verbergen. Die Kraftmeierei des Nazismus, sein Geschrei, seine Demonstrationen, seine Verbrechen, waren die Maske von neidischen Schwächlingen.”

Dieser Sündenbock-Mechanismus hat die Nazizeit überlebt. Als Ende der siebziger Jahre Hakenkreuz-Schmierereien wieder einmal für peinliches Aufsehen sorgten, machte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß kommunistische Geheimdienste für die Schändung jüdischer Friedhöfe verantwortlich. Das rechtslastige „Deutschland-Magazin” behauptete, der „angebliche Neonazismus sei in Wahrheit eine Waffe Moskaus”. Das war ein bequemer Weg, die Krankheit am eigenen Leibe zu leugnen und sich der Auseinandersetzung mit den wahren Ursachen zu entziehen.

Inzwischen gibt es keine DDR und keine Sowjetunion mehr, aber noch immer werden Hakenkreuze auf Grabsteine geschmiert und jüdische Einrichtungen angegriffen. Wenn es nur das wäre! Als die rechtradikale NPD vor Jahren zu einer Demonstration gegen den Bau einer Synagoge in Bochum aufrief und die örtliche Polizeibehörde den provozierenden Aufmarsch verbot, machte das Bundesverfassungsgericht den Unbelehrbaren den Weg frei. Das Recht der Neonazis zu demonstrieren wurde höher bewertet als das Recht der Überlebenden des Holocaust, vor der Verhöhnung der Opfer des Naziterrors geschützt zu werden. (Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juni 2004, Aktenzeichen 1 BvQ 19 / 04).

Nicht von ungefähr, so scheint es, verlangte zu Beginn des neuen Jahrtausends der damalige Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, beim Kampf gegen die Neonazis, nicht bestimmte Entwicklungen in der Mitte der Gesellschaft aus dem Blickfeld zu verlieren; dort gebe es immer noch hartnäckige Vorurteile gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft und anderer Religion.

Verharmlosung des Rechtsextremismus

Diese Vorurteile sind das Ergebnis der Jahrzehnte langen Verharmlosung rechtextremistischer Bestrebungen. Allzu gern wird vergessen, dass während des kalten Krieges nicht die Bekämpfung des Neonazismus im Vordergrund stand, sondern die Bekämpfung der Kommunisten und all derer, die dafür gehalten wurden. Nur so konnte es dazu kommen, dass zwei Monate nach dem Beginn des Auschwitzprozesses der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke einem der Mitschuldigen an der Ausbeutung von Auschwitzhäftlingen das Bundesverdienstkreuz verlieh. Geehrt wurde auf Vorschlag des Bundesverbandes der deutschen Industrie der stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrates der Ruhrchemie AG Oberhausen, Dr. Heinrich Bütefisch, ehemals leitender Angestellter des IG Farbenkonzerns Ein alliiertes Gericht verurteilte ihn nach Kriegsende wegen der Ausbeutung von Auschwitzhäftlingen und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sechs Jahren Gefängnis. Davon wussten die Beteiligten an dem Ordensskandal angeblich nichts. Bütefisch musste sein Verdienstkreuz zurückgeben, nachdem eine Schweizer jüdische Zeitung aufgrund eines Artikels von mir bei der Ordenskanzlei des Bundespräsidialamtes angerufen hatte. Dann wurde die peinliche Angelegenheit schnell unter den Teppich gekehrt.

Das ist es wohl, was Fritz Bauer meinte, als er nach dem Auschwitzprozess feststellte, in dem Verfahren sei „das Herz des Ganzen” nicht zur Sprache gekommen. Viele sahen in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Art Nestbeschmutzung, viele waren verstrickt in das Gewaltregime der Nationalsozialisten und an einer Bloßlegung seiner Wurzeln nicht interessiert. Warum musste Bundeskanzler Konrad Adenauer ausgerechnet einen von ihm selbst später als „tiefbraun” bezeichneten Experten der Nazis für die Neuordnung des europäischen Ostens namens Theodor Oberländer in sein Kabinett holen? Weshalb musste er ausgerechnet den Mitverfasser eines juristischen Kommentars zu den Rassegesetzen der Nazis, Dr. Hans Globke, als Staatssekretär und engsten Berater im Kanzleramt beschäftigen, ihn, der diesen Kommentar später selbst als „entsetzlich und abstoßend” bezeichnet hat. Musste da nicht der Eindruck aufkommen, dass es mit der Judenverfolgung wohl nicht so schlimm gewesen sein konnte, wenn einem solchen Mann dieses wichtige Amt anvertraut wurde? Heute würde man sagen: Eine schlimmere Verharmlosung des Ungeistes der Nazizeit konnte es gar nicht geben.

„Unbußfertige Verschwörung des Nichtwissens“

Zyniker sagen, Hans Globkes Tätigkeit als Staatssekretär im Bundeskanzleramt habe der Demokratie nicht geschadet. Schließlich hätten sich doch alle vom Ungeist des Nazismus distanziert. In der Tat, an solchen Bekundungen hat es nicht gemangelt. Stets wurde versichert, die Bekämpfung des Neonazismus und Rechtsextremismus gehöre, wie die Bekämpfung des Linksextremismus, zu den entscheidenden Lehren der Vergangenheit. In Wirklichkeit hatten Politik, Polizei und Justiz hauptsächlich die Linken im Visier, die aktivsten Gegnern Hitlers, deren Widerstand gegen die Wiederbewaffnung und die Notstandsgesetze als Widerstand gegen den Rechtsstaat gedeutet und deren Verdienste im Kampf gegen den nazistischen Unrechtsstaat ignoriert wurden. Resigniert bemerkte Fritz Bauer nach dem Auschwitz-Prozess, die von ihm angestrebte Aufklärung habe nicht stattgefunden. Die „unbußfertige Verschwörung des allgemeinen Nichtwissens”, die er bei den Angeklagten beobachte hatte, beschränkte sich nach seiner tiefen Überzeugung nicht auf den Kreis der unmittelbar an den NS-Verbrechen Beteiligten; er hielt sie für ein verbreitetes Phänomen, gepaart mit Versuchen, die Naziverbrechen zu relativieren.

1983 appellierte der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, an die Deutschen, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten und normal zu werden. 1986 fragte der Historiker Ernst Nolte, ob der „Archipel Gulag”, also das Verbannungssystem unter Stalin, nicht „ursprünglicher als Auschwitz” gewesen sei. 1998 wandte sich der Schriftsteller Martin Walser in seiner Paulskirchenrede dagegen, Auschwitz als „Moralkeule“ zu benutzen, woraufhin ihm die versammelte deutschen Créme de la Créme am Schluss stehend eine Ovation bereitete – mit Ausnahme von Ignatz Bubis; der Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland blieb als Einziger sitzen. 1999 rechtfertigte der grüne Außenminister Joschka Fischer die deutsche Teilnahme am völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Jugoslawien mit dem Satz, er habe nicht nur „Nie wieder Krieg”, sondern auch „Nie wieder Auschwitz” gelernt, so als hätten auf dem Balkan Gaskammern und Verbrennungsöfen verhindert werden müssen. 2006, also vor seiner Zeit als Bundespräsident, bezeichnete Joachim Gauck den Massenmord an den Juden als rational einzuordnendes Phänomen der modernen Zivilisation. Neun Jahre später sagte derselbe Joachim Gauck, es gebe keine deutsche Identität ohne Auschwitz, und am 70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus verkündete der Historiker Heinrich August Winkler im Bundestag ganz im Sinne Alfred Dreggers, die Deutschen dürften sich „durch die Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen“.

Schlussstrichdenken hat gesiegt

Alles nur Einzelmeinungen? Alles nur Einzelfälle? Ja, alles nur Einzelfälle, aber sie ergeben wie Mosaiksteinchen ein Gesamtbild, das nachdenklich stimmt. Die nach der deutschen Vereinigung erhobene Forderung von Jürgen Habermas, die „klammheimlichen Phantasien von der neu-alten europäischen Großmacht Deutschland“ sollten endlich öffentlich diskutiert werden, wird heute nur noch milde belächelt. Niemand in der SPD stört sich auch nur im geringsten an der Aussage Rudolf Scharpings, er halte es für „konservatives Symbol“, wenn gefordert werde, die Deutschen müssten endlich, wie alle anderen auch, überall auf der Welt militärisch intervenieren können. „Das wollen wir nicht mitmachen.“

Entgegen allen Beteuerungen, dass es einen Schlussstrich unter die Vergangenheit niemals geben werde, dominiert das Schlussstrichdenken längst die politische Wirklichkeit. Den Weg dahin haben die westlichen Alliierten geebnet. Sie brauchten die Deutschen, die eben noch für Hitler geschwärmt hatten, als Verbündete im Kampf gegen den ehemaligen Kriegsverbündeten im Osten, begnadigten vorzeitig verurteilte Naziverbrecher und ließen die ursprünglich für notwendig gehaltene Entnazifizierung zur Farce verkommen Andere drückten beide Augen zu, zahlten die Deutschen doch am meisten in die gemeinsame europäische Kasse und entlasteten damit die Haushalte der Nachbarn.

Die offiziellen Gedenkrituale, die den Opfern der Nazityrannei gewidmet sind, den deutschen Widerstand gegen Hitler wegen des hohen Anteils der Kommunisten aber ausklammern, haben mit der politischen Wirklichkeit nichts zu tun. Der Welt wird nach dem deutschen Wirtschaftswunder ein deutsches Vergangenheitsbewältigungswunder präsentiert, stünden da nicht die prophetischen Worte des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi im Raum: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“ Mit dem Auschwitz-Prozess wollte Fritz Bauer dem Vergessen einen Riegel vorschieben. Wenige Wochen nach Beginn der Hauptverhandlung mahnte er: „Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden. Nichts ist, wie man zu sagen pflegt, bewältigt, mag auch die Öffentlichkeit sich gerne in dem Glauben wiegen, dass ihr zu tun fast nichts mehr übrig bleibe.“

Für Alfred Dregger war das „törichtes Gerede“. Wer sich all das bewusst macht, für den klingt die Beteuerung des Bundespräsidenten Joachim Gauck, „Wir werden nicht zulassen, dass das Wissen um de besondere historische Verantwortung Deutschlands verblasst“, ziemlich hohl. Zur historischen Verantwortung Deutschlands hätte es gehört, sich bei der Etablierung eines demokratischen Rechtsstaates nicht mit denen gemein zu machen, die einst nur Hohn und Spott für ihn hatten. Keiner hat die Folgen dieser Fehlentscheidung so schmerzlich zu spüren bekommen, Fritz Bauer, der zu Lebzeiten als Nestbeschmutzer verleumdet und nach seinem Tod ganz schnell dem Vergessen anheim gegeben wurde. Sein Wirken als politischer Mensch habe ich am 19. Dezember 1993 in einem Essay für Radio Bremen nachgezeichnet.

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