Meine Damen und Herrn, vielleicht möchten Sie wissen, weshalb ich heute über die Fünfte Kolonne Hitlers und die historische Schuld ihrer Wortführer spreche. Das hat unter anderem damit zu tun, dass ich aus der Heimat dieser Leute stamme und dass sich heute zum 75. Male der Tag jährt, an dem ein konservativer Reichspräsident Deutschland jenem Hitler ausgeliefert hat, der fünf Jahre später mein Geburtsland, die Tschechoslowakische Republik, überfiel und kurz darauf den zweiten Weltkrieg vom Zaune brach.
Als einer, der die schmerzlichen Folgen dieses Verbrechens am eigenen Leibe verspürt hat, möchte ich das Dunkel ein wenig lichten, das über dem Begriff ‚Fünfte Kolonne’ liegt. Und ich möchte klarstellen, welche Rolle sie bei der Einverleibung des so genannten Sudetenlandes durch Nazideutschland gespielt hat. Sollte ein Gast aus dem benachbarten Haus der Schlapphüte Interesse an der Nummer meines Ausweises für Vertriebene und Flüchtlinge haben, dann will ich sie gleich nennen. Sie lautet 5934/7563.
Das erwähnte Gebiet liegt nicht irgendwo auf dem Balkan, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft. Ich erwähne das deshalb, weil ich in Gesprächen den Eindruck gewonnen habe, dass allein schon die geografische Zuordnung der Tschechischen Republik, heute verkürzt als Tschechien bezeichnet, mitunter gewisse Schwierigkeiten bereitet. Manche verwechseln gelegentlich Tschechien mit Tschetschenien oder Slowenien.
Deutsche aus dieser Gegend haben schon immer gewisse Irritationen hervorgerufen. Ich erinnere mich, dass Wehrmachtsangehörige aus dem Sudetenland, das nach Hitlers Einmarsch als Reichsgau Sudetenland firmierte, scherzhaft „Sudetengauner“ genannt wurden. Was die Kameraden aus dem Reich damit sagen wollten, lasse ich einmal dahingestellt. Vielleicht waren ihnen diese „Beutedeutschen“, die sich Adolf Hitler 1938 verzückt in die Arme geworfen und dabei lauthals „Wir wollen heim ins Reich“ geschrieen haben, nicht ganz geheuer.
Im Nachhinein mutet dieses Verhalten in der Tat merkwürdig an. Deutschland war damals ein diktatorisch regiertes Land ohne demokratische Freiheiten, überzogen mit einem Netz von Konzentrationslagern. Ausgerechnet dieses Land, in dem die Menschenrechte mit Füßen getreten wurden, war das Ziel der Sehnsucht so vieler Sudetendeutscher. Dabei besaßen sie als gleichberechtigte Bürger destschechischen Staates doch alle demokratischen Rechte und Freiheiten. Sie konnten ihren politischen Willen ungehindert bei freien Wahlen bekunden.
So kam es, dass sie sich bei der Kommunalwahl im Mai 1938 zu neunzig Prozent für die Sudetendeutsche Partei jenes Konrad Henlein entschieden, der später als Gauleiter von Hitlers Gnaden offenbekannte: „Um uns vor tschechischer Einmischung zu schützen, waren wir gezwungen zu lügen und unsere Ergebenheit für die Sache des Nationalsozialismus zu leugnen. Lieber hätten wir uns offen zum Nationalsozialismus bekannt. Es ist jedoch eine Frage, ob wir dann imstande gewesen wären, unsere Aufgabe zu erfüllen – die Tschechoslowakei zu vernichten.“ (Der neue Tag, 5.3.1941)
Nicht alle machten sich mit der Stimmenabgabe für Henlein die Ziele der Nazis zu Eigen. Viele reagierten nur ihren Ärger über tschechische Bevormundung ab. Es gab ja genügend nationalistisch verblendete Tschechen, die im Widerspruch zum Toleranzgebot des Staatsgründers Thomas Masaryk den Deutschen heimzahlen wollten, was sie selbst als unterdrückte Minderheit an Demütigungen einmal hatten hinnehmen müssen. Damit leiteten sie immer wieder Wasser auf die Mühlen der Scharfmacher unter den dreieinhalb Millionen Deutschen, die der Tschechoslowakischen Republik bei ihrer Gründung 1918 in die Wiege gelegt worden waren und die nun als Minderheit neben einer tschechischen Mehrheit leben mussten.
Nach Meinung der deutschnationalen Scharfmacher besaßen die Tschechen kein Anrecht auf Loyalität, weil sie den Deutschen das Selbstbestimmungsrecht vorenthalten hätten. Dieser Einwand ist noch heute zu hören. Aber die Siegermächte als Taufpaten des neuen Staates konnten den Völkern Europas wohl schwerlich zumuten, den Kriegsverlierer Deutschland mit einem territorialen Zuwachs zu belohnen; die Angliederung der deutsch besiedelten Randgebiete der Tschechoslowakischen Republik an das Deutsche Reich war schließlich das erklärte Ziel der Kampagne für das Selbstbestimmungsrecht. Was es mit diesem Recht in Wirklichkeit auf sich hatte, offenbarte 40 Jahre später das Eingeständnis der ersten Sprechers der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Rudolf Lodgman von Auen, das Selbstbestimmungsrecht einer Volksgruppe ende dort, wo das gleiche Recht einer anderen Volksgruppevorliege, zumal wenn beide so miteinander verzahnt seien, dass eine Abgrenzung unmöglich werde. (1)
Das vom amerikanischen Präsidenten Wilson 1919 als Teil einer internationalen Friedensordnung proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker war von Anfang an eine Schimäre, ein Trugbild, das die Mächtigen zu allen Zeiten als politisches Kampfmittel je nach Bedarf befürwortet oder abgelehnt haben. Als Hitler den Tschechen 1938 unter dem Tarnmantel des Münchner Abkommens einen Teil ihres Staatsgebietes wegnahm, war vom Selbstbestimmungsrecht des tschechischen Volkes nirgendwo die Rede. Seine gewählten Vertreter durften nicht einmal an den Konferenztisch. Sie wurden vor vollendete Tatsachen gestellt und mussten das Ergebnis wie rechtlose Heloten hinnehmen. Eine solche Demütigung vergisst kein Volk.
Wenn drei Nachbarn beschließen, einem vierten etwas wegzunehmen, ohne ihn auch nur anzuhören, dann ist das sittenwidrig. Eine solche Abmachung hat vor dem Recht keinen Bestand. Nicht von ungefähr hat die Bundesregierung das Münchner Abkommen bereits 1973 für nichtig erklärt. Das hinderte den bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber allerdings nicht, zwanzig Jahre später zu behaupten, das Münchner Abkommen sei „rechtswirksam zustande gekommen” (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.6.1992). Er machte sich damit den Standpunkt der Sudetendeutschen Landsmannschaft zu Eigen, die sich immer eine Hintertür für Entschädigungsforderungen offenhalten will.
Stoibers Haltung in dieser Frage ist ein Musterbeispiel für die kritiklose Übernahme der Geschichtsbilder, mit denen die Vertriebenenverbände seit Jahrzehnten hausieren gehen. Es sind die Bilder der Volkstumskämpfer alter Schule, geprägt von Überheblichkeit und Ressentiments. Für sie waren die Tschechen immer die „Pepiks”, ein minderwertiges Slawenvolk, zu nichts anderem geeignet als zu Dienstbotenverrichtungen, dem es im übrigen noch nie so gut gegangen sei, wie zur Zeit der deutschen Herrschaft im Protektorat Böhmen und Mähren. Anders als die Deutschen hätten sie dort ein „gesichertes Leben ohne Bomben und Krieg“ geführt, wie in einem sudetendeutschen Heimatblatt vor zwei Jahren nachzulesen war. (Riesengebirgsheimat, Nov. 2006, S. 17)
Ähnlicher Ansicht ist auch die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach. Nach ihren Worten haben die Tschechen unter der deutschen Besatzung „fast gar nicht gelitten“. (Freie Umschau Mitteleuropa, www.hagalil.com). Was für ein Hochmut! So als hätte es Lidice nie gegeben, jenes Lidice, von dem Heinrich Mann sagte, wenn kein anderes, dann werde dieses Dorf das Andenken an eine Schreckensherrschaft verlängern. (2) Ist das die Richtung, in die das „Zentrum gegen Vertreibungen” oder das, was von der ursprünglichen Idee übrig geblieben ist, nach den Vorstellungen von Frau Steinbach und ihrer Gesinnungsfreunde in den Unionsparteien weisen soll? Sollen so die Akzente gesetzt werden in den Lehrplänen über Flucht und Vertreibung, die nach Meinung der Vertriebenenverbände überfällig sind?
Mangelnde Geschichtskenntnis führt zwangsläufig zu mangelnder Sensibilität im Umgang mit der Geschichte. Nur wessen historischer Horizont in der Augenhöhe von Gartenzwergen verläuft, geht zum Beispiel bei dem Wort ‚Fünfte Kolonne’ in Abwehrposition. Genau das war aber die Reaktion von Frau Steinbach, als der tschechische Ministerpräsident Milos Zeman die Sudetendeutschen entsprechend apostrophierte. Dass die Landsmannschaft mit einem Aufschrei der Empörung reagierte, war nicht verwunderlich. Aber Frau Steinbach? Und worauf soll man es zurückführen, dass sich auch die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung unter Gerhard Schröder schützend vor die Sudetendeutsche Landsmannschaft stellte und von einer unzulässigen kollektiven Verdächtigung sprach?
Wer sich auch nur die Bilder der jubelnden Sudetendeutschen vor Augen hält, die Hitler und seine Wehrmacht als Befreier begrüßt haben, der wird die erwähnte Bezeichnung niemals als unzulässige Verdächtigung betrachten. Der tschechische Ministerpräsident hat seine Aussage übrigens später durch den Hinweis ergänzt, immerhin zehn Prozent der Sudetendeutschen seien der Demokratie treugeblieben und hätten sich den Nazis widersetzt. Dieser demokratische Kern der Sudetendeutschen spielt im kollektiven Gedächtnis der Sudetendeutschen
Landsmannschaft keine Rolle. Das Bild bestimmen die Jubler von einst. Das rührt daher, dass während des kalten Krieges die Bekämpfung des Naziungeistes in den Hintergrund trat und Gegnerschaft zum Kommunismus mit demokratischer Gesinnung verwechselt wurde. So bekamen die ehemaligen Gefolgsleute Hitlers und Henleins politisch wieder Oberwasser und gaben in der Landsmannschaft den Ton an. Auch sonst waren sie überall willkommen.
Ich werfe nicht alle Sudetendeutschen in einen Topf. Es gab vor dem Einmarsch der Wehrmacht viele Beispiele guten Zusammenlebens zwischen Deutschen und Tschechen. aber wahr ist auch, dass die Nazipartei nirgendwo größeren Zulauf hatte, als im Sudetenland. Bis zum Jahr 1942 waren von den dreieinhalb Millionen Sudetendeutschen 510.458 auseigenem Antrieb und ohne Zwang in die NSDAP geströmt, das waren 14,5 Prozent der gesamten Bevölkerung. Allein im Sudetenland hatte die NSDAP damit fast soviel Mitglieder, wie heute die CDU in ganz Deutschland. Deren Mitgliederzahl wurde auf dem jüngsten Parteitag mit 541.289 angegeben. Das entspricht 0,6 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ähnlich sieht es bei der SPD aus (Mitgliederzahl im Oktober 2007: 567.925). Mit 14,5 Prozent erreichte die NSDAP im Sudetenland ihre höchste Organisationsdichte. Im Reichsdurchschnitt lag sie bei 7,8 Prozent. Mehr als eine Million Sudetendeutsche wurden wegen ihrer Verdienste um den „Anschluss“ mit einer eigens dafür geschaffenen Medaille geehrt. Nirgendwo sonst konnte sich die Gestapo auf so viele freiwillige Spitzel und Denunzianten stützen wie im Sudetenland. Ein Bericht der Karlsbader Gestapo vom 24. Dezember 1940 an das Reichssicherheitshauptamt in Berlin bestätigt das auf anschauliche Weise. Trotzdem wird immer noch behauptet, die Sudetendeutschen hätten mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun haben wollen.
Dabei war der Wahn von der Überlegenheit der deutschen Rasse sozusagen ein Eigengewächs. Er hatte seine Wurzeln in den Köpfen von ein paar Leuten, die sich nicht damit abfinden wollten, dass die slawischen Völker nach einer eigenen staatlichen Identität strebten. Lange bevor Hitler seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ins Leben rief, gab es in Österreich und später in der Tschechoslowakischen Republik eine Partei ähnlichen Namens, die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei. Bei ihr hat Hitler abgeschrieben, hier suchte und fand er die Bestätigung für seinen Hass auf die Slawen und auf die Juden. In Hitler fanden die sudetendeutschen Volkstumskämpfer nach dessen Machtübernahme den lange erhofften Bundesgenossen und Schutzpatron, der ihnen die Tschechen endlich vom Hals schaffen sollte. Als Ziel der Reichspolitik in Böhmen und Mähren proklamierte der Staatssekretär beim Reichsprotektor, Karl Hermann Frank, die „restlose Germanisierung von Raum und Menschen“. Rassisch „unverdauliche Tschechen und die reichsfeindliche Intelligenz sowie alle anderen destruktiven Elemente“ sollten – wie er sich ausdrückte – der „Sonderbehandlung“ zugeführt, also ermordet werden.
Während der Protektoratszeit fielen 120.000 Tschechen dem Naziterror zum Opfer, aber nach Meinung von Frau Steinbach haben die Tschechen unter der deutschen Besatzung „fast gar nicht gelitten“. Das war kein Ausrutscher. Die Vertriebenenpräsidentin hätte nach eigenem Bekunden auch keine Probleme damit, bei offiziellen Anlässen die erste Strophe des Deutschlandliedes zu singen, so als klänge niemandem mehr das dröhnende „Deutschland, Deutschland über alles“ wie ein Echo aus der Hölle in den Ohren.
Wer als Kind eines deutschen Besatzungssoldaten im besetzten Polen zur Welt gekommen ist hat natürlich keine eigene Erinnerung an die Nazizeit. Bei der Flucht nach Deutschland war die kleine Erika zwei Jahre alt. Sie hat also vermutlich auch keine eigenen Erinnerungen an dieses Ereignis. Daraus ist ihr kein Vorwurf zu machen. Natürlich kann man sich historische Kenntnisse nachträglich aneignen, aber sie können eigene Erlebnisse nicht ersetzen. Immer übernimmt man, gewollt oder ungewollt, Schilderungen und Schlüsse anderer. Im Fall der Vertriebenenpräsidentin ist es zum Beispiel die Sichtweise von Heinz Nawratil, dessen Schwarzbuch der Vertreibung 1945 – 1948 sie in einer Rezension (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Juni 1999) wärmstens empfohlen hat. Der Verfasser verlangt darin unter anderem die „Schaffung einer zentralen Ermittlungsstelle für Kriegs- und Nachkriegsverbrechen an Deutschen“ (S. 195) so als gäbe es da einen Nachholbedarf. Der Name deutet darauf hin, dass damit die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen sprachlich konterkariert werden soll. Zur Vertreibung der Deutschen wird in dem Buch ausgeführt, ihr wahrer Grund sei „ein archaischer slawischer Nationalismus“ gewesen, (S. 90) was Hitler sicher mit einem Triumphgelächter quittieren würde.
Adam Michnik, einen der einflussreichsten Intellektuellen Polens, hat vor zwei drei Jahren davongesprochen, dass in Deutschland eine gefährliche Sinnverkehrung der Geschichte stattfinde. In „unüberlegter und inkompetenter Weise” hätten sich Angela Merkel und Edmund Stoiber hinter die Forderungen der Bund der Vertriebenen-Vorsitzenden Erika Steinbach gestellt und damit die Atmosphäre vergiftet. Dem tschechischen und dem polnischen Staat von deutscher Seite aus diktieren zu wollen, welche Gesetze sie abzuschaffen haben und welche nicht, sei „einfach unfassbar“ (http://www.hagalil.com/archiv/2004/05/)
Dieser Ärger hat eine lange Vorgeschichte. Bereits vor fast dreißig Jahren registrierte die Frankfurter Allgemeinen Zeitung (vom 29.1.1979) polnische Befürchtungen wegen einer – wie es hieß – „nationalistischen Revision“ der Geschichtsschreibung in der Bundesrepublik. Immer öfter und immer verwegener würden Wahrheiten über die neueste deutsche Geschichte in Frage gestellt und deutsche Leiden hervorgehoben. Immer weniger sei von deutscher und immer mehr von fremder Verantwortung die Rede. Was früher nur bei offen neonazistischen Strömungen zu finden gewesen sei, das Suchen nach mildernden Umständen, Rechtfertigungen und Mitschuldigen, trete immer mehr auch in der konservativen Strömung der Geschichtsschreibung auf.
Diese Schlussstrichmentalität hat nach der Einverleibung der DDR durch die Bundesrepublik auf erschreckende Weise zugenommen. Dabei sollte doch „die Vereinigung Deutschlands als Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeutsamer Beitrag zu Frieden und Stabilität in Europa“ sein, wie es im sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag“ vom 12. September 1990 so schön heißt. Und heute muten gewisse Leute unseren Nachbarn zu, sie sollten Mord und Vertreibung durch die Nazis hintan zu stellen und endlich ein mea culpa wegen der Vertreibung der Deutschen sprechen. Soll die Erinnerung an Auschwitz etwa zugedeckt oder verschmolzen werden mit der Erinnerung an Bombennächte und Vertreibung? Soll nicht mehr von den Tätern die Rede sein, sondern nur noch von Opfern? Wer das will, zerstört das moralische Fundament, auf dem die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden ist. Eine solche Revision der Geschichte verstieße unter anderem gegen Artikel 139 des Grundgesetzes, der die Absage an Nationalsozialismus und Militarismus festschreibt.
Ein wenig scheint Erika Steinbach zu ahnen, wie rutschig der Boden ist, auf dem sie sich mitunterbewegt. Nicht von ungefähr, so scheint es, wollte sie einer Journalistin gerichtlich verbieten lassen, das geplante Zentrum gegen Vertreibungen irgendwie in Verbindung zu bringen mit dem Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Aber diese gedankliche Nähe hat sie selber geschaffen. Laut Urteil des Landgerichts Hamburg (vom 25.6.2004) steht nämlich folgender Sachverhalt fest: „Als der Bundestag 1999 beschloss, in Berlin ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas zu errichten, forderte Erika Steinbach, dass auch die deutschen Vertriebenen ihr Mahnmal in Berlin bekommen müssten.”(http://www.buskeismus.de) Was da ausgesprochen wurde, stimmt mit den politischen Aussagen der Sudetendeutschen Lands-mannschaft völlig überein. Sie stellt die Vertreibung seit Jahren auf eine Stufe mit dem Holocaust, dem Massenmord an den Juden. Das Motto des Sudetendeutschen Tages 2006 lautete: „Vertreibung ist Völkermord“. Lange bevor das dreiste Gerede der Neonazis vom „Bombenholocaust“ und „Vertreibungsholocaust“ einsetzte, hat der ehemalige CSU-Bundestagsabgeordnete und langjährige Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Dr. Walter Becher, 1979 sein „Holocaust war überall“ in die Welt posaunt, womit er das Jahrhundertverbrechen an den Juden zu einer beliebigen Missetat herab stufte, die es anderswo auch gegeben habe.
Gab es deswegen einen Aufschrei der Empörung? Nein. Wer sich auf die richtige Seite schlägt, oder sollte ich vielleicht sagen, wer sich auf die rechte Seite schlägt, dem werden alle Sünden verziehen. Als Kulturredakteur eines Naziblattes verlangte Walter Becher die „allgemeine Entjudung“ als „erste Voraussetzung für den Neuaufbau des sudetendeutschen Kulturleben“. Thomas Mann, Lion Feuchtwanger und Franz Werfel waren für ihn „parasitäre Erscheinungen am Rande der deutschen Kultur“. Fünfzig Jahre später nannte er die deutsch-tschechische Versöhnungserklärung, die die Unterschrift von Helmut Kohl trägt, eine „groß angelegte Täuschungsaktion der Prager Beneschisten“, assistiert von der Vertriebenenpräsidentin, nach deren Worten die Bundesregierung damit eine „unglaubliche Torheit“ begangen hat.
Gelegentlich hat Erika Steinbach ihre umstrittene Idee eines Zentrums gegen Vertreibungen mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass auch ein so profilierter Sozialdemokrat wie Peter Glotz das Vorhaben unterstütze. Das machte die Sache aber nicht besser. Peter Glotz, der inzwischen verstorben ist, wuchs in Prag auf, wo sein Vater „damals der ‚Besitzer’ eines kleinen arisierten Betriebes für Gasmasken“ war. So steht es in seinem politischen Tagebuch Die Jahre der Verdrossenheit auf Seite 191. Sein Vater war also Nutznießer der Zwangsenteignung jüdischer Betriebe. Mit seiner Mutter verließ er als kleiner Junge nach Kriegsende die Tschechoslowakei.
Nach eigenem Bekunden interessierte sich Glotz jahrzehntelang nicht für seine Herkunft. Das änderte sich erst, als er 1980 ins SPD-Präsidium gewählt und zum Sachverständigen für die Tschechoslowakei bestimmt wurde. Mit seiner Einschätzung, es sei unhistorisch, die Vertreibungen „als Ergebnis der Nazis darzustellen“ und die Sudetendeutschen als Fünfte Kolonne Hitlers zu bezeichnen, lag er ganz auf der Linie der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Das lasse ich hier unkommentiert stehen, sozusagen als Nachtrag zu der seltsamen politischen Liaison zwischen Peter Glotz und Erika Steinbach.
Die Sozialdemokraten haben sich in der Nachkriegszeit nie weit von den Forderungen der Vertriebenenverbände entfernt. Im Gegenteil. Sie haben sie immer wieder tatkräftig unterstützt, so zum Beispiel als sie 1961 im revisionistischen Tonfall verkündeten: „Wiedergutmachung der Vertreibung heißt: Rückkehr der Vertriebenen.“ Diese Anpassung nach rechts hin hat Hermann Kesten bereits 1942 während des Exils in Amerika mit den Worten gegeißelt, die „verderbliche Rücksichtnahme“ auf die „Empfindlichkeiten der Nationalisten“ sei stets „einer der Hauptfehler gewisser Sozialdemokraten gewesen“. (3)
Wer wie ich Entwurzelung und Heimatverlust am eigenen Leibe erlebt hat, der kann den Missbrauch von persönlichen Schicksalen zu politischen Zwecken nur mit tiefem Unbehagen betrachten. Was mich betrifft, so denke ich bei dem Wort Vertreibung auch an jene Deutschen, die – lange vor allen anderen – von den Nationalsozialisten aus politischen oder rassischen Gründen vertrieben worden sind. Ihnen wird bis auf den heutigen Tag nicht der gebührende Platz eingeräumt in der Erinnerungskultur derer, die ihre speziellen Geschichtsbilder pflegen und so tun, als sei nur ihnen Unrecht widerfahren.
Verstreut über die ganze Erde haben diese Vertriebenen den Verlust ihrer Heimat ebenso beweint wie jene, die später immerhin unter Menschen deutscher Zunge bleiben konnten. Für die meisten dieser 150.000 Menschen bedeutete das Leben in der Fremde ein Leben ohne Geld, ohne Familie, ohne Freunde, misstrauisch beäugt von den Behörden des Gastlandes und ohne Aussicht auf Zahlungen nach einem Lastenausgleichsgesetz. Über den Schmerzdieser Menschen liest man nichts. Vergeblich sucht man zum Beispiel eines der Heimwehgedichte dieser Vertriebenen in der gängigen Vertriebenenliteratur.
Aber was ist eigentlich auszusetzen an Zeilen wie diesen: „Die Straßen, die im Traum ich seh, die Wege, die ich wachend geh, sie führen alle heim.“ Oder: „Wir gingen und im Herzen sang es: Trinkt! O trinkt noch mehr! Wir sehen uns wer weiß wie lang, wer weiß wie lang nicht mehr.“ Der dies im Exil niederschrieb heißt Louis Fürnberg. Ein Deutscher, aufgewachsen in Karlsbad und Prag, ein Kommunist allerdings, ein jüdischer obendrein, von Konrad Henlein schon früh in Acht und Bann getan, 1937 auf einer Kulturkonferenz seiner Partei im nordböhmischen Reichenberg. Für so einen ist auch nach siebzig Jahren kein Platz. Ich weiß, wovon ich rede: Ich war neunzehn, als ich am 20. September 1946 in mein Tagebuch schrieb: „Es ist soweit. Zum letzten Mal sitze ich an diesem Fenster und schreibe. In mir ist ein so starker Schmerz, dass ich ihn körperlich spüre. Noch zwei Tage bin ich daheim. Noch 48 Stundenhöre ich unsere alte Uhr ticken. Noch zweimal werde ich hier den Tag kommen und gehen sehen – dann werde ich gehen.“ Am 1. Oktober 1946 hatte unser Aussiedlungstransport nach mehrtägiger Fahrt Neu-Ulm erreicht. Dort notierte ich während eines Zwischenaufenthaltes: „Noch immer kann ich nicht fassen, dass ich von daheim fort musste. Ein Wahnsinn ist das Ganze, ein zum Himmel schreiendes Verbrechen.“
Mich traf der Heimatverlust auch deshalb so schwer, weil mein Vater zu den sudetendeutschen Hitlergegnern gehörte. Er war seiner demokratischen Gesinnung auch während der Nazizeit treu geblieben und stand im Kontakt mit Leuten aus dem tschechischen Widerstand. Nie werde ich vergessen, wie mein Vater, den ich noch nie hatte weinen sehen, beim Verlassen des Hauses mit knirschenden Zähnen vergeblich versuchte, seine Tränen zurückzuhalten. An mangelnder Liebe zur Heimat lag es wahrlich nicht, dass ich auf Distanz blieb zum organisierten Flüchtlingsbetrieb. Ich sah die Wortführer der Vertriebenen auf einem Weg, dem ich nicht folgen wollte. In einer Publikation unter dem Titel Die Henleins gestern und heute habe ich sie bereits vor 45 Jahren alle mit Namen genannt. Keiner von ihnen hat meiner „Anklage gegen die ehemaligen Führer der ‘Fünften Kolonne’ Hitlers“, wie ich die Schrift damals genannt habe, in irgendeiner Weise widersprochen. Auch nicht die Bundesregierung, der ich damals vorwarf, „sich mit den politischen Zielen und revanchistischen Forderungen der Landsmannschafts-Funktionäre zu identifizieren“.
Was den Begriff ‚Fünfte Kolonne‘ angeht, so möchte ich abschließend jemanden zu Wort kommenlassen, der bei Frau Steinbach hoch im Kurs steht, den amerikanischen Historiker und Völkerrechtler Alfred M. de Zayas, einen Kritiker der alliierten Politik nach dem zweiten Weltkrieg. In seinem Buch Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen (München: C.H. Beck, 1977, S. 28) verweist er darauf, dass sich die Teilnahme von Personen deutscher Volkszugehörigkeit an illoyalen Aktionen oder Verschwörungen vor dem Krieg in Polen und in der Tschechoslowakei dokumentarisch belegen lasse. Der Begriff ‚Fünfte Kolonne’ hat nach der Schilderung de Zayas seinen Ursprung im spanischen Bürgerkrieg. General Emilio Mola Vidal habe ihn geprägt, ein Mitstreiter General Francos. Mola marschierte seinerzeit mit vier Kolonnen auf das von den Republikanern gehaltene Madrid zu. Die Sympathisanten der Nationalen in der spanischen Hauptstadt habe Mola als seine „Fünfte Kolonne“ bezeichnet.
Nach dieser Definition kann überhaupt nicht zweifelhaft sein, welche Rolle die Sudetendeutschen mehrheitlich gespielt haben, als Hitler seine Kolonnen in Marsch setzte. Viele von ihnen waren ja nicht bloß Sympathisanten. 40.000 wehrfähige Männer schlossen sich als Bürger des tschechischen States dem von Deutschland aus operierenden Sudetendeutschen Freikorps an, einer bewaffneten Terrortruppe, die durch Überfälle auf tschechische Grenzeinrichtungen und andere Provokationen jene bürgerkriegsähnliche Atmosphäre schuf, die Hitler für sein Münchner Erpressungsmanöver zur Losreißung der tschechischen Randgebiete brauchte. Bei insgesamt 239 derartigen Aktionen wurden 110 Menschen ermordet. An der Finanzierung des Freikorps hat sich auch jenes deutsche Unternehmen beteiligt, das später so schamlos von der Häftlingsausbeutung in Auschwitz profitiert hat, nämlich die IG Farben Industrie. Einer ihrer Direktoren, Dr. Fritz ter Meer, bestätigte als Zeuge im Flickprozess, dass 100.000 Reichsmark an das Sudeten-deutsche Freikorps geflossen sind. Vielleicht werden wir eines Tages auch erfahren, wieviel Millionen Dollar an die UCK des Hashim Taci geflossen sind, der mit seiner albanischen Befreiungsarmee den Konflikt um das Kosovo inszenierte. Das nur am Rande.
Der tschechische Staatspräsident Eduard Benesch wäre bei den Alliierten des zweiten Weltkriegs vermutlich nur schwer mit dem Argument durchgedrungen, die Sudetendeutschen müssten als unverbesserliche Störenfriede für immer abgeschoben werden, wenn sie ihm nicht selbst tausend Gründe geliefert hätten und wenn ihm der Weg nicht von Hitler durch den Krieg und die damit verbundenen schrecklichen Ereignisse geebnet worden wäre. Diesen Zusammenhang zwischen Krieg und Vertreibung wollen viele nicht sehen. In der Heimatzeitschrift der Riesengebirgler las ich unlängst sogar den Satz: „Der Krieg war grausam, für jeden sehr schwer, doch Vertreibung war schlimmer als alles vorher.“ Was für ein bizarres Fazit!
Die Alliierten betrachteten die Vertreibung der Sudetendeutschen „als eine Form kollektiver Bestrafung“ (4), als „eine Sanktionsform, die vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft und dem Leiden der Kriegsjahre verständlich wird“ (5), wie Marion Frantzioch in ihrem Buch Die Vertriebenen anmerkt. Wer die Aufhebung der Benesch-Dekrete verlangt, mit denen die Vertreibung und die damit verbundenen Verbrechen nachträglich sanktioniert wurden, der verlangt die Annullierung von Entscheidungen, die die USA, Großbritannien und die Sowjetunion nach der Niederwerfung des deutschen Faschismus gemeinsam gefällt haben. Niemand kann doch allen Ernstes erwarten, sie würden, nachdem sie die Mörder von Lidice, Oradour, Babyn Jar, Belzec, Treblinka, Majdanek, Sobibor und Auschwitz geschlagen haben, ein halbes Jahrhundert später ihr Urteil korrigieren und quasi einer Verrechnung der Gaskammeropfer mit den Vertreibungsopfern zustimmen.
Meine frühe Kritik an den Vertriebenenfunktionären resultierte aus der Erkenntnis, dass die nationalistischen Scharfmacher, die das Elend des Krieges und der Vertreibung mit heraufbeschworen haben, mit ihrer ewigen Nörgelei und Rechthaberei die Aussöhnung mit unseren Nachbarn behinderten. Da wurden Töne laut, die in jedem aufmerksamen Beobachter die berechtigte Befürchtung aufkommen ließen, dass sich hier „ein Nährboden für Radikalismus und Militarismus bildet“, wie die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland 1961 bemerkte. Wieviel Vertriebene Erika Steinbach hinter sich hat, weiß niemand genau. Bei der letzten statistischen Erhebung im Jahr 1974 wurden 9,4 Millionen Vertriebene gezählt. Mitte der achtziger Jahre gehörte nach einer Allensbach-Umfrage nur ein Prozent der Vertriebenen einer Landsmannschaft an. Folglich gab es schon damals nur rund 94.000 organisierte Vertriebene. Trotzdem spricht der Bund der Vertriebenen seit zwanzig Jahren ungerührt von zwei Millionen Mitgliedern. Auch wenn man einen gewissen Zuwachs aus der Ex-DDR in Rechnung stellt, ist das schwer zu verstehen. Wie mir das Bundesinnenministerium und das Statistische Bundesamt auf Anfrage mitteilten, existiert nicht einmal eine Statistik, aus der sich die derzeitige Gesamtzahl der Vertriebenen herleiten lässt.
Hätten die Menschen nicht ihr sprichwörtlich kurzes Gedächtnis, wäre Erika Steinbach schon früher an ihre Grenzen gestoßen. Kein anderes Nachkriegsereignis ist nämlich bereits so oft und so ausführlich dokumentiert worden wie die Vertreibung. Bereits 1952 erschien zum Beispiel in vierter Auflage das 600 Seiten starke Werk Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen. Das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte gab in den Jahren 1954 bis 1961 eine mehrbändige Dokumentation zur Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa heraus, die 2004 neu verlegt wurde. Bei jeder Wahl spielte das Thema eine Rolle und die Betroffenen selbst erinnern seit einem halben Jahrhundert auf ihren Pfingsttreffen an ihr Schicksal, ganz zu schweigen von den rund 500 Denkmälern zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung, die es bereits 1960 in Westdeutschland gab. (6)
Nach all dem außenpolitischen Schaden, den Frau Steinbach samt Anhang mit der Idee eines Zentrums gegen Vertreibungen angerichtet hat, scheinen die Weichen neu gestellt worden zu sein. Die Regierung selbst will eine Dokumentationsstätte einrichten, ohne dass Frau Steinbach dabei das große Wort führt. Die vorgesehenen Gremien sollten neben den bekannten Darstellungen der Vertreibungsgeschichte auch neue Forschungsergebnisse berücksichtigen, wie zum Beispiel das bei Peter Lang im Internationalen Verlag der Wissenschaften erschienene Werk Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. (7) Und sie sollten ihr Augenmerk auf deutsche Zeitzeugen richten, denen die Erinnerung an die Vorgeschichte der Vertreibung – im Gegensatz zu den Epigonen der Fünften Kolonne Hitlers – nicht abhanden gekommen ist.
Vortrag am 30. Januar 2008 in Bremen, Gewerkschaftshaus, Bahnhofsplatz 22-28. Veranstalter: VVN-Bund der Antifaschisten, DGB-Jugend, Bremer Friedensforum.
(1) Rudolf Lodgman, „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker“, in: Der Donauraum, Wien, H. 4 (1958)
(2) Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt. Düsseldorf: Claassen Verlag, 1985, S. 509.
(3) Hermann Kesten (Hg.), Deutsche Literatur im Exil. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1973, S.168.
(4) Bundesministerium für Vertriebene (Hg.), Dokumentation der Vertreibung. Bd. I/1, S. 23 E.
(5) Marion Frantzioch, Die Vertriebenen. Berlin: Dietrich Reimer Verlag 1987, S. 51.
(6) Tobias Weger, in: Bohemia, Bd. 45, H. 2 (2004), S. 466.
(7) Hg. v. Hans Henning Hahn, Oldenburg.
Erschienen in: Bohemistik…
(Conrad Taler)
Die Kritik der von mir sehr geschätzten Kollegen Otto Köhler und Eckart Spoo in Ossietzky 11 und 12/2009 an dem Petitionsaufruf der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, im Zusammenhang mit dem Zentrum gegen Vertreibungen ein Zentrum der verfolgten Künste zur Förderung der demokratischen Erinnerungskultur einzurichten, kann nicht unkommentiert bleiben.
Damit jeder weiß, um was es geht, zitiere ich ein paar Sätze aus dem Text, mit dem die Initiatoren ihre Forderung gegenüber dem Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages begründen: »Die großen Vertreibungen begannen ab 1933 mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Künstler und andere Intellektuelle, Wissenschaftler, Sportler und Politiker wurden als erste vertrieben. Ein großer Teil kehrte nie mehr zurück. Die Schicksale dieser ersten ›Heimatvertriebenen‹ waren keine Einzelfälle, sondern es war das Kalkül der Nazis, diese oftmals echten Patrioten und Demokraten aus ihrer Heimat für immer zu vertreiben, bevor sie mit der Vernichtung (ihrer Werke) begannen. Dokumentation und Präsentation der Werke und der Schicksale dieser ersten Vertriebenen im Rahmen eines Zentrums der verfolgten Künste sollte nationale Verpflichtung sein.«
Gedacht wird an ein »Haus der Vorbilder und der Toleranz«, das »etwa im Rahmen der Schaffung eines Zentrums gegen Vertreibungen« finanziert und gesichert werden könnte. Es würde sich also um eine gesonderte Einrichtung handeln, die nach meinem Verständnis nicht Bestandteil des Zentrums gegen Vertreibungen wäre und ein Gegengewicht zu dem von der Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach initiierten Zentrum gegen Vertreibungen darstellen könnte.
Obwohl es dem Staatsminister und geschickten Taktierer Bernd Neumann gelungen ist, Erika Steinbach die Gestaltungshoheit über dieses Zentrum zu entwinden, hat sich dessen politische Zielrichtung nicht verändert. Neben das Berliner Denkmal für die Opfer des Holocaust soll ein Gedenkort für die Opfer der Vertreibung gestellt und aus einem Tätervolk ein Opfervolk gemacht werden. Angesichts der geplanten Geschichtsrevision ist jeder Vorstoß zu begrüßen, der die Vorgeschichte der Nachkriegsvertreibungen – um die es den Vertriebenenfunktionären ja hauptsächlich geht – und andere Kausalitäten in Erinnerung ruft.
Insofern kann es sich bei dem Aufruf der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft weder um ein »abenteuerliches Vorhaben« noch um ein »Feigenblatt für Erika Steinbach« handeln. Zu den Erstunterzeichnern der Petition gehören ehrenwerte Leute wie der ehemalige Warschauer Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, Hauptkontrahent Erika Steinbachs in Polen, die deutsche Bischöfin Maria Jepsen und der ehemalige Botschafter der Bundesrepublik in Israel, Rudolf Dreßler. Keiner hätte seinen Namen hergegeben, wenn es stimmte, was Köhler argwöhnt, daß nämlich Erika Steinbach »die deutsche Exilliteratur und den deutschen Widerstand für ihren finsteren Plan vereinnahmen« wolle.
Auch ich habe die Petition unterschrieben. Daß ich, der ich seit Jahrzehnten die Politik der Vertriebenenverbände kritisiere, damit – wie Spoo den Befürwortern der Eingabe unterstellt – Erika Steinbach den »antifaschistischen Segen« erteilt haben soll, will mir nicht in den Kopf. Zwar haben die Initiatoren vergessen, in die Reihe der von den Nazis vertriebenen deutschen Politiker auch einen Kommunisten aufzunehmen, aber sie erwähnen immerhin unter den Schriftstellern Bertolt Brecht.
Als einer, der aus einer antifaschistischen Familie stammt, selbst vertrieben worden ist, gleichwohl aber für eine dauerhafte Aussöhnung mit den polnischen und tschechischen Nachbarn wirbt, bitte ich um eine differenzierte Betrachtung des zugegeben sperrigen Themas.
Ossietzky, „Bemerkungen“, 13 (2009)…
In der Einleitung zu einem Funkessay über die komplizierten Abläufe des europäischen Agrarmarktes habe ich einst gesagt, mit der europäischen Agrarpolitik verhalte es sich wie mit der Relativitätstheorie: Jeder habe schon von ihr gehört, aber keiner verstehe sie. In gewisser Weise gilt das auch für die Vertreibung und den heutigen Umgang mit ihr – fast 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Als einer, der Vertreibung am eigenen Leibe erlebt hat, fühle ich mich allen verbunden, die ihre Heimat – aus welchen Gründen auch immer – verlassen mussten. Vertriebene waren auch jene Menschen, die während der NS-Zeit aus politischen oder rassischen Gründen in anderen Ländern Zuflucht suchen mussten. Meine Kritik an der politischen Instrumentalisierung von Millionen Vertriebenenschicksalen resultiert letzten Endes aus dem Schmerz, der mir mit der Vertreibung aus meinem Geburtsland, der Tschechoslowakei, zugefügt worden ist. Noch heute schrecke ich nachts aus quälenden Träumen hoch, bis ein leiser Zuruf meiner Frau mich in die Gegenwart zurückholt.
Ich war neunzehn, als ich meine Heimat im Nordosten von Böhmen am Fuße des Riesengebirges verlassen musste. Am 20. September 1946 schrieb ich in mein Tagebuch: „Es ist so weit. Zum letzten Mal sitze ich an diesem Fenster. In mir ist ein so starker Schmerz, dass ich ihn körperlich spüre. Noch zwei Tage bin ich daheim. Noch 48 Stunden höre ich unsere alte Uhr ticken. Noch zweimal werde ich hier den Tag kommen und gehen sehen – dann werde ich gehen.“
Am 1. Oktober 1946 hatte unser Aussiedlungstransport nach mehrtägiger Fahrt Neu-Ulm erreicht. Dort notierte ich während eines Zwischenaufenthaltes: „Noch immer kann ich nicht fassen, dass ich von daheim fort musste. Ein Wahnsinn ist das Ganze, ein zum Himmel schreiendes Verbrechen.“
Weiterlesen in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 12 (2004)…
„Bei der Schriftstellerei tut jeder nicht das, was er will, sondern das, was er kann, und zwar, insoweit es ihm gelingt.“
„Bei der Schriftstellerei tut jeder nicht das, was er will, sondern das, was er kann, und zwar, insoweit es ihm gelingt. Die Kritik darf strenge Gewissenhaftigkeit in jedem einzelnen Punkt von dem Autor verlangen.“
(Ivan Turgenjew, Väter und Söhne)
Er sei in dieses Buch wie in eine Landschaft hineingewandert, die für ihn Kindheit bedeute, schwärmt Peter Härtling in seinem Vorwort zu Josef Holubs Roman „Der rote Nepomuk“, erstmals erschienen 1993 im Beltz Verlag Weinheim und Basel. Gerührt spricht Härtling vom „Bubenparadies“ der beiden Hauptfiguren Josef und Jirschi, das Holubs Buch „für uns aufbewahrt“ habe. Könnte es sein, dass ihm das Heimweh nach der eigenen Kindheit ein wenig den Blick verstellt hat? Nicht die Knabenabenteuer von Josef und Jirschi bestimmen nämlich den Inhalt, sondern das dramatische Geschehen kurz vor der Besetzung des Sudetenlandes durch die Truppen Adolf Hitlers. Dass Holub ungeniert alte Klischees aus der Rumpelkammer deutsch-völkischer Propaganda benutzt, dass er die Tschechen abschätzig als „Böhmacken“ bezeichnet – ist das dem liebenswerten Peter Härtling nicht aufgefallen?
„Der rote Nepomuk“ ist eines von drei Büchern, die Josef Holub nach der Wende im Osten für Kinder und Jugendliche geschrieben hat. Der zweite Band mit dem Titel „Lausige Zeiten“, erstmals 1997 im Beltz Verlag erschienen, handelt vom Aufenthalt Josefs in einer „Lehrerbildungsanstalt“ unter dem Hakenkreuz. Im dritten Band, der 2001 im Beltz Verlag herauskam, geht es um Josefs Erlebnisse in der alten Heimat nach Kriegsende.### Die autobiographisch geprägte Romantrilogie umfasst die Jahre 1938 bis 1946, also jenen Zeitabschnitt, der die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen bis in die Gegenwart hinein belastet. Wer über diese Zeit redet und wem es dabei um Versöhnung geht, darf nicht einseitig das Geschichtsbild sudetendeutscher Volkstumskämpfer zugrunde legen, er darf es erst recht nicht, wenn er für Kinder und Jugendliche schreibt. Natürlich wollen junge Menschen beim Lesen Spaß haben, aber sie wollen auch richtig informiert werden. Gerade sie haben einen besonderen Anspruch auf Wahrheit; ihr Bild von der deutsch-tschechischen Nachbarschaft, um die es hier geht, wird schließlich ein Leben lang von den Eindrücken bestimmt werden, die ihnen bei der ersten Begegnung mit diesem hochkomplexen Thema vermittelt worden sind.
Holubs „Roter Nepomuk“ ist eingebettet in die politische Hochspannung nach dem Wahlsieg der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins im Mai 1938. Neunzig Prozent der Deutschen gaben damals ihre Stimme den Wegbereitern Hitlers. In der kleinen Stadt Neuern am Fuße des Böhmerwaldes, Schauplatz des Geschehens und Geburtsort Holubs, lebten in den 30er Jahren nur wenige Tschechen; ihr Anteil an der Bevölkerung betrug etwa zehn Prozent. Dennoch fühlten die Deutschen sich unterdrückt. Holub illustriert das mit den Worten, die tschechischen Beamten wollten „überhaupt nicht Deutsch reden und verstehen, obwohl sie es alle können. Das kommt davon, weil der Masaryk die Deutschen in Böhmen überhaupt nicht mögen hat.“
Was für ein Unsinn, ausgerechnet den ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik als Deutschenhasser hinzustellen, ausgerechnet ihn, dessen Toleranz und humanistische Gesinnung selbst seine Gegner nie bezweifelt haben. Nicht von ungefähr nennt ihn Peter Härtling im Vorwort einen „großen Staatsmann“. Wem sollen die jungen Leser denn glauben? Nun, vielleicht fällt ihnen ja auf, dass der Verfasser dieses Buches öfter dummes Zeug redet, selbst bei ganz unwichtigen Dingen wie etwa der Frage, wann in Böhmen die Steinpilze reifen. Jeder halbwegs Kundige weiß, dass Steinpilze im Herbst wachsen, auch in Böhmen. Nicht so bei Holub. Bei ihm wachsen sie im Frühjahr, wenn „die Maiblumen weiße Kugeln geworden“ (sind) und „die Linden duften“.
Auch wenn es um tschechische Wörter geht schwadroniert er einfach drauf los. So schreibt er zum Beispiel: „Zu mir sagt der Tschech podschgej, und das heißt ja bekanntlich komm mit“. Podschgej heißt aber nicht komm mit, sondern warte. Wenn Holub sagen will, dass etwas gestohlen worden ist, spricht er von kralovaty. Es gibt aber nur das ähnlich geschriebene Wort kralovati, doch das heißt: wie ein König herrschen. Und wenn Holub Jirschi sagen lässt „Tu es nicht, Pepitschek“, dann ist auch das falsch; richtig muss es in diesem Fall heißen: „Tu es nicht, Pepitschku“. In keinem seiner drei Bücher bringt er es fertig, das tschechische Wort für Deutsche richtig zu verwenden.
Diese offen zur Schau getragene Unkenntnis und Gleichgültigkeit im Umgang mit der tschechischen Sprache ist Ausdruck der Arroganz gegenüber dem tschechischen „Dienstbotenvolk“ und gegenüber den Menschen, deren Muttersprache Tschechisch ist. Abwertend nennt Holub sie immer wieder „Böhmacken“. Selbst Josefs Freund Jirschi bleibt nicht verschont. „Der Böhmack freut sich, wie er mich sieht“, heißt es über ihn. Josefs Vater legt er die Worte in den Mund: „Es wird zum Krieg kommen, wenn die Böhmacken nicht gutwillig nachgeben“. Über eine Wirtshausschlägerei schreibt er: „Die letzten herumsitzenden Böhmacken werden hinausgeschmissen.“
Weiterlesen in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 6 (2014)…