Lieber Herr Nelhiebel, verehrte Anwesende,
trotz der Vielfalt der Tätigkeiten, denen Sie im Laufe Ihres langen Lebens nachgegangen sind – so z. B. das Photographieren, Gedichte schreiben, ein hingebungsvoller Ehemann und Vater gewesen zu sein oder auch Modellflugzeuge zu konstruieren und zu bauen –, nehme ich doch an, daß Sie nichts dagegen einzuwenden hätten, als Publizist bezeichnet zu werden. Nach der gängigen Wikipedia-Definition versteht man unter einem Publizisten einen Journalisten, Schriftsteller oder Wissenschaftler, der mit eigenen Beiträgen (Publikationen) – beispielsweise Analysen, Kommentaren, Büchern, Aufsätzen, Interviews, Reden oder Aufrufen – an der öffentlichen Meinungsbildung zu aktuellen Themen teilnimmt“. Mit anderen Worten: Damit ist jemand gemeint, der nicht nur eine Meinung hat, sondern sie auch zum Ausdruck bringt, und das öffentlich, der sich also öffentlich einmischt.
Nun haben Journalisten, die ihr Handwerk ernst nehmen, eine doppelte Aufgabe: zum einen an der öffentlichen Meinungsbildung teilzunehmen, zum anderen aber auch die schiere Nachrichtenübermittlung. Wir erleben es seit einiger Zeit in zunehmendem Maße, daß diese beiden Aufgaben miteinander vermischt werden, und welchen Schaden das anrichtet, brauche ich wohl nicht weiter auszuführen. Kurt Nelhiebel war hier in erfrischender Weise skrupulös. Als Nachrichtenredakteur schrieb es unter seinem offiziellen Namen, als Kommentator und ‚Meinungsbildner‘, als sich in öffentliche Angelegenheiten Einmischender lange Zeit unter dem Pseudonym Conrad Taler. Er selbst hat dies – glaubhaft – begründet mit seiner Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber, Radio Bremen, aber ich sehe hier zusätzlich noch eine tiefere Begründung: Zum einen ging es um die grundsätzliche Trennung zweier journalistischer Aufgaben, zum anderen aber auch schaffte er damit einen persönlichen Freiraum für sich selbst. Der polnische Philosoph Leszek Kołakowski hat einmal behauptet, echte Intellektuelle seien unfähig zu taktischem Denken und Verhalten. Ich würde meinen, daß dies weniger eine Tatsachenbehauptung, sondern eher eine aufklärerische normative Wunschvorstellung ist. Kurt Nelhiebels Entschluß, sich unter einem anderen Namen den Freiraum zu schaffen, dessen er als Autor bedurfte, sehe ich auch als eine bewußte Entscheidung, sich nicht unter den Zwang taktisch begründeter Verhaltensweisen zu begeben, sondern sich eine Situation zu schaffen, in der man sich eine Meinung ‚leisten‘ kann und nicht herumtaktieren muß.
Bei der soeben zitierten Definition des Publizisten war von Journalist, Schriftsteller oder Wissenschaftler die Rede – man kann nun, wenn man das ganze Spektrum der Veröffentlichungen Kurt Nelhiebels betrachtet, mit Fug und Recht sagen, daß er alles drei war: er war Journalist, er war und ist schriftstellerisch tätig, und er arbeitet wissenschaftlich, was die Präzision und Detailversessenheit seiner zeithistorischen Recherchen angeht. Sich wissenschaftlich zu betätigen ist keine Frage erworbener Titel oder der Anstellung an einer akademischen Institution, denn dort finen sich leider viele, die nicht nur eine wissenschaftliche Tätigkeit, sondern auch wissenschaftliches Denken schon längst aufgegeben haben. Wissenschaft ist die Erweiterung des Wissens durch Forschung, Forschung wiederum ist die methodische Suche nach neuen Erkenntnissen sowie ihre systematische Dokumentation und Veröffentlichung. Das alles tun Sie, lieber Herr Nelhiebel, und zwar beharrlich und in bewundernswerter Weise.
Nachdem ich so unseren Preisträger kurzerhand in meinen eigenen Berufsstand ‚inkorporiert‘ oder gar für ihn ‚annektiert‘ habe, sollte ich das vielleicht doch etwas substantiieren. Wenn wir thematisch Revue passieren lassen, womit sich Herr Nelhiebel in seinen Büchern und Aufsätzen beschäftigt hat, dann kommt eine recht ansehnliche Liste heraus – diejenige, die ich jetzt kurz aufzähle, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Daß das Thema Vertreibung bei ihm als jemandem, der mit 19 Jahren seine Heimat in einem Antifaschistentransport verlassen mußte, im Zentrum stand und steht, bedarf wohl kaum einer Erklärung. Daß ihn dabei aber die Kausalität und damit Vorgeschichte vor allem interessierte, unterscheidet ihn und vor allem seine Texte von einem großen Teil der Vertreibungsliteratur. Er hat immer großes Gewicht auf den Zweiten Weltkrieg als der Vorgeschichte der Vertreibung gelegt. Das führte ihn sowohl dazu, welche Rolle das Münchener Abkommen von 1938 und die Zerschlagung der Ersten Tschechoslowakischen Republik im März 1939 für die Auslösung des Kriegs spielte, als auch, wie die Tschechoslowakische Demokratie in der Zwischenkriegszeit zu bewerten sei. Logischerweise ergab sich daraus die Beschäftigung mit der Geschichte der Sudetendeutschen in dieser Demokratie und ihr Anteil an deren Zerschlagung. Als Sohn eines sudetendeutschen Sozialisten und Gewerkschaftlers unterschieden sich seine Erfahrungen, seine Ansichten und seine Haltung dabei grundlegend von den Geschichtsbildern, die von den sudetendeutschen Organisationen in der Bundesrepublik verbreitet wurden und noch immer werden. Sein erstes Buch Die Henleins gestern und heute beschäftigte sich mit dem Witikobund, die sogar vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingeschätzte völkische Gesinnungsgemeinschaft im Rahmen der sudetendeutschen Landsmannschaft. Schon hier wurde ein wichtiges Leitmotiv deutlich, das sich auch bei anderen Themenkomplexen des Nelhiebelschen Schrifttums findet, nämlich das Thema der historischen Kontinuität – aber darüber noch später.
Die Befindlichkeit der Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik sowie der Mißbrauch von deren Gefühlen und Sehnsüchten durch die selbsternannten Vertriebenenverbände und durch die bundesrepublikanische Politik sind ein weiterer Themenkreis. Obwohl Herr Nelhiebel nicht zu den Teilnehmern der jeweiligen „Tage der Heimat“ oder ähnlicher Veranstaltungen gehörte, verfolgte er doch aufmerksam, was sich in diesem politischen Spektrum tat. Vor allem wurde er bekannt als jemand, der unangenehme Fragen stellt, so an diverse Verbände und staatliche Stellen über die realen Mitgliederzahlen der Vertriebenenverbände oder über die Höhe der Subventionen, mit denen der Bund der Vertriebenen, die Landsmannschaften oder ähnliche Organisationen von Bund, Ländern oder Kommunen aus Steuergeldern finanziell unterstützt werden. Präzise Antworten gab es dabei nie, trotzdem trugen diese Korrespondenzrecherchen doch sehr erhellend dazu bei, wie viele und wie große diesbezügliche vernebelte Bereiche es in unserer Gesellschaft gibt.
Seitdem die Vertreibung wieder in Mode gekommen ist, also seit dem Ende der 1990er Jahre, schreibt Herr Nelhiebel gegen den Vertreibungsdiskurs der Mehrheit der deutschen Medien an. Das betrifft vor allem die Frage nach den Ursachen der Vertreibung und das Erklärungsparadigma, nämlich daß angeblich das Konzept des Nationalstaats impliziere, daß eine Nationalgesellschaft ethnische Homogenität anstrebe und deshalb mit sogenannten „ethnischen Säuberungen“ arbeite, um eine solche Homogenität herzustellen. Interessanterweise wird dies immer nur solchen Nationalstaaten zugeschrieben, von denen man annimmt, daß sie erst 1918 entstanden seien – auf die älteren Nationalstaaten wird diese These nicht angewandt. Viele der Vertreter dieser These verstehen das damit implizierte Streben nach der Überwindung des Nationalstaats als Ausdruck einer europäischen Gesinnung, ohne sich darüber im Klaren zu sein, daß ein solches In-Frage-Stellen des Nationalstaats wohl zunächst einmal bei den großen Nationalstaaten beginnen sollte und nicht bei den kleinen Staaten. Wie dem auch immer sei – als Erklärung für das Vertreibungsgeschehen reicht dieses Paradigma nicht. Der Zusammenhang von Krieg und Vertreibung, daß nämlich bei allen Fällen von Zwangsmigration im 20. Jahrhundert solche ‚Vertreibungen‘ entweder während eines Krieges oder infolge eine Krieges stattfanden, ist evident und bisher von niemandem widerlegt worden. In der von Erika Steinbach, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, initiierten komparatistisch angelegten Ausstellung Erzwungene Wege im Kronprinzen-Palais in Berlin 2006 gab es nur eine sogenannte Vertreibung, die in Friedenszeiten stattgefunden hatte, nämlich die erzwungene Auswanderung von jüdischen Bürgern aus dem Deutschen Reich in den Jahren 1933-1938. Allerdings – wenn man dies als ‚ethnische Säuberung‘ bezeichnet, dann wären die deutschen Juden ein nichtdeutsches, also ‚fremdes‘ Ethnos gewesen. Mit diesem Ansatz stellt man sich auf den Boden der Nürnberger Gesetze und deren Definition, was ein Jude sei – und das halte ich für den eigentlichen Skandal. Ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen Krieg und Vertreibung bestand und besteht zweifellos, und darauf hinzuweisen ist Kurt Nelhiebel nie müde geworden. Diese Einsicht paßt aber wenig in die politischen Argumentationsketten der bundesrepublikanischen Geschichts- und Nachbarschaftspolitik. Zwar konnte man nicht leugnen, wie der Krieg von wem 1939 ausgelöst wurde. sprach man sich doch Durch die Geschichtskonstruktion, das Vertreibungsgeschehen sei zwar nach dem Krieg geschehen, er handele sich aber um eine rein konsekutive Folge, da existiere keine historische Kausalität, sprach man sich quasi selbst frei, indem durch diese Konstruktion die Schuldzuweisung auf die ehemaligen Kriegsgegner zurückgeworfen wurde.
In den Werken Kurt Nelhiebels finden sich immer wieder Aspekte einer bundesrepublikanischen Gesellschaftsanalyse – und auch hier erweist sich unser Autor als Zeithistoriker, stellt er doch für gegenwärtige Befindlichkeiten immer wieder den Vergangenheitsbezug her. Das betrifft die Anwesenheit und Rolle von Kriegsverbrechern, exemplifiziert an „als Demokraten verkleidete Nazis“ wie z. B. am Fall Theodor Oberländers – dessen Entlarvung geschah nicht erst 1961 durch einen Prozeß in absentia in Ostberlin, sondern schon zwei Jahre zuvor 1959 durch Kurt Nelhiebels Artikel in der Tat.
Die Nähe bestimmter Teile des bundesdeutschen Establishments zu rechtsradikalen Organisationen und Auffassungen beunruhigte sicherlich nicht nur Herrn Nelhiebel, und wenn man zu seinem Buch Die Verharmloser (1996) greift, dann kann nichts mehr, was der NSU-Untersuchungsausschuß im vergangenen Jahr aufgedeckt hat, erstaunen. Auch die bundesrepublikanische Justizgeschichte, vor allem der unterschiedliche Umgang mit der NS-Justiz und der DDR-Justiz, hat er so präzise aufgegriffen, daß wohl manch einem Richter Zweifel an der Integrität seines Berufsstandes gekommen sind.
Schließlich waren auch die Oder-Neiße-Grenze bzw. der Skandal ihrer Nichtanerkennung ebenso wie das sinnlose Wettrüsten seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Themen, mit denen sich Kurt Nelhiebel zu Wort meldete.
Erlauben Sie, daß ich kurz etwas Professionelles einflechte, d. h. aus der Perspektive von jemandem, der seit seinem Studium den Beruf des Historikers ausübt. Großen professionellen Respekt hat mir immer Kurt Nelhiebels Umgang mit historischen Quellen eingeflößt. Die Sorgfalt, mit der er seine Recherchen durchführt, und vor allem die Umsicht, mit der er sie interpretiert, machen deutlich, daß Engagement und Meinungsfreudigkeit keineswegs Feinde von Wissenschaftlichkeit sind, und daß umgekehrt Wissenschaftlichkeit, Umsicht und Sachlichkeit nicht unbedingt eine historische Lektüre zu einem langweiligen, nur Gähnen hervorrufenden Unternehmen machen.
Methodisch schlägt sich Kurt Nelhiebel mit einem Grundproblem jeder historischen Darstellung herum: nämlich wie thematisiere ich historische Kontinuität, ohne ein Verfechter von Traditionalismus zu werden bzw. als solcher mißverstanden zu werden. Kontinuität oder Diskontinuität ist nicht eine politische oder weltanschauliche Option, sondern eine Frage der Perspektive. Daß Kurt Nelhiebel darauf besteht, daß die Vertreibung und vieles mehr eine Vorgeschichte haben, daß auch Verbrechen insofern Kontinuität haben, daß sie sowohl eine Vorgeschichte wie eine Nachgeschichte haben, daß weder die Vertreibung noch das Dritte Reich vom Himmel fielen, das macht ihn weder zum Traditionalisten noch zu einem Konservativen. Womit dieses Problem zu tun hat, will ich Ihnen kurz mit einem Beispiel aus der bundesdeutschen Vertreibungsdebatte des Jahres 2003 verdeutlichen: Am 28. August 2003 formulierte der damalige Außenminister Joschka Fischer, selbst Kind einer Vertriebenenfamilie aus Ungarn, in einem Interview für die ZEIT eine Reihe von ‚Breitseiten‘ gegen die Auffassungen der Vertriebenenvorsitzenden Erika Steinbach. Der Pressesturm, der daraufhin einsetzte, begann wirkungsvoll am 29. August 2003 in einem Leitartikel in der FAZ, in dem – und das ist für unseren Zusammenhang interessant – behauptet wurde, man sei entsetzt über „das Ausmaß moralischer Verwirrung, die sich des Stellvertreters des deutschen Bundeskanzlers bemächtigt“ habe. Joschka Fischer habe sich gegen den „Versuch, die Vertreibung singularisiert herauszunehmen“ gewandt, aber „es markiert indes Verbrechen von der Art der Vertreibung der Ostdeutschen, daß sie Vorgeschichte abschneiden“. Die Opfer dieses Verbrechens seien aus allen Zusammenhängen und den Erwartungen an ein normales Leben herausgerissen worden – „auch aus den Kausalzusammenhängen“. Die Vertreibungsopfer repräsentieren deshalb in den Augen dieser Zeitung mehr als nur individuelles Leid: „Der Völkermord trifft ein Volk. Mit unserem ist es so weit gekommen, daß es sich von seinen gewählten Regierenden das Recht erstreiten muß, an die Stunde zu erinnern, als es auch Opfer war.“ [i]
Lassen wir mal den populistischen Unterton beiseite, mit dem dieser Kommentar endete: Wesentlich ist, daß hier geleugnet wurde, daß ein historisches Ereignis einen historischen Kontext habe und daher in bestimmte Kontinuitäten zu setzen sei. Es ist schon seltsam, oder anders ausgedrückt sehr erstaunlich, wenn eine Zeitung, die das Attribut konservativ gerne mit sich herumträgt, behauptet, ein Verbrechen ‚schneide Vorgeschichte ab‘, reiße ‚auch aus Kausalzusammenhänge heraus‘. Ich betone dies, um den Stellenwert der Texte Kurt Nelhiebels in der deutschen Presselandschaft, aber auch generell im zeithistorischen und publizistischen Diskurs unserer Gesellschaft deutlich zu machen.
In einem Zeitungsartikel (Weserkurier 27. 12. 2012, Stadtteil-Kurier) fand ich einen Artikel über Kurt Nelhiebel mit einer Überschrift, die mich recht nachdenklich gestimmt hat: „Ein Rufer in der Wüste“. Ein ‚Rufer‘ ist er sicher. Aber in der Wüste? Hier ist die Frage nach der Resonanz gestellt. Nun leben wir in einer Epoche, in der schon seit einiger Zeit Erfolg das Maß aller Beurteilung ist, und zwar Erfolg hier und jetzt. Zunächst einmal: Leben wir, lebt Kurt Nelhiebel in einer Wüste? Wäre nicht die Metapher Dschungel viel angebrachter? – ein Dschungel, der viele Laute ganz einfach verschluckt oder übertönt, der für eine chaotische Welt steht? Und was ist schon in unserer hochkomplizierten Medienwelt Erfolg? Muß man zum Mainstream-Diskurs gehören, um das, was man tut, für sinnvoll zu erachten. Ich will nicht das hohe Liede des Small is Beautiful anstimmen, sondern vor leichtfertigen Metaphern warnen. Kurt Nelhiebels Texte haben Wirkung – wir könnten uns zwar wünschen, daß sie von noch mehr Menschen nicht nur gelesen, sondern auch verstanden würden, aber daß es sie gibt, dafür sollten wir vor allem ihm dankbar sein, und damit auch allen seinen Lesern.
Was brachte Kurt Nelhiebel zum Schreiben? Angefangen hat er wohl, wenn ich ihn recht verstanden habe, mit Lyrik, und diese literarische Gattung hat er auch nie verlassen – dem Himmel sei Dank. Wenn ich mir seine politischen und historischen Texte ansehe, dann fallen mir mehrere Dinge auf:
Als er in einem Interview vor 3 Jahren gefragt wurde, was ihn am meisten berührt habe, als er vor 50 Jahren für die Zeitschrift der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über den Frankfurter Auschwitz-Prozeß berichtete, antwortete er spontan: „Berührt haben mich die Schilderungen der Opfer. Sie berichteten von unvorstellbarem Grauen. Empört hat mich, dass den Angeklagten jedes Mitgefühl abging. Leid getan haben sie sich nur selbst, weil sie vor Gericht gestellt wurden, während andere ungeschoren blieben“. (ND 11. 6. 2011). Für Kurt Nelhiebel stehen die Opfer im Vordergrund, aber über die reine Empathie hinaus treibt ihn ein Gerechtigkeitssinn. Es geht ihm nicht um kollektive Schuldreflektionen, das, was man in England als ‚guilt-ridden Germans‘ ironisiert; bei Nelhiebel findet sich kein selbstbezogenes Reflektieren über kollektive Schuld, sondern die konkrete Zuwendung zu den Opfern und die Frage nach individueller Verantwortlichkeit. Es gibt bei ihm keine kollektiven Schuldzuweisungen, weder gegenüber den Deutschen noch den Tschechen noch irgendjemandem sonst.
Was ihn zum Schreiben treibt, das hat er 2002 in seinem Buch über die bundesrepublikanische Justiz mit den folgenden Worten formuliert:
»Warum habe ich dieses Buch geschrieben? Ich habe es geschrieben aus Respekt vor all jenen, die Widerstand gegen Hitler geleistet haben und später miterleben mussten, wie seine Diener und Förderer wieder zu Ansehen und Einfluss gelangten. Ich habe es geschrieben in Verbundenheit mit den Überlebenden und den Hinterbliebenen der Opfer des Justizterrors der Nationalsozialisten, denen es nicht erspart blieb, den Freispruch für Hitlers Blutjustiz hinnehmen zu müssen. Ich habe es geschrieben aus Empörung darüber, dass dieselbe Justiz, die Hitlers Richter ungeschoren ließ, die Richter der DDR verurteilt und damit die Opfer des Naziterrors zum zweiten Mal verhöhnt.«
Respekt vor dem Widerstand, der überall in Europa gegen Hitler geleistet wurde, Mitgefühl mit Opfern und deren Hinterbliebenen, Empörung und Gerechtigkeitsgefühl – das kann eine Menschen schon antreiben.
Aber wir sollen nicht die persönliche Seite vergessen. Es ist schon eine lebenslange Trauer, die aus vielen Texten Kurt Nelhiebels spricht. Der Umstand, daß er seine böhmische Heimat verlassen mußte, hat ihn immer wieder dazu bewegt, darüber nachzudenken, sich über die Kausalitäten klar zu werden, die einzelnen Stationen seines Lebens in Böhmen und die Umstände Revue passieren zu lassen. Daher blieb kein Trauma, aber die Trauer konnte ihm niemand nehmen; er hat sie akzeptiert und mit ihr gelebt. Das Schreiben ordnet nicht nur die Welt, es ordnet auch die eigenen Gefühle. Es bringt auch zur Einsicht, was wesentlich und vielleicht auch weniger wesentlich ist, aber Einsicht ist kein Antidotum gegen Trauer. Mit Einsicht gepaarte Trauer kann mobilisieren, intellektuell vor allem, und das hat kreative Folgen.
Gleichzeitig – für Kurt Nelhiebel ist das Schreiben lebendige Erinnerung. Wenn er historische Kontinuitäten feststellt und beschreibt, dann erinnert er uns, daß Dinge nicht einfach so sind oder geschehen, sondern daß man sich ihrer Vorgeschichte erinnern muß, um sie zu verstehen. Erst die Erinnerung macht die Welt verständlich, bewahrt vor dem Irrtum, daß Dinge nun mal einfach so sind. Die Gegenwart ist nie aus sich selbst heraus, sondern hat immer eine Vorgeschichte, und die Kenntnis dieser Vorgeschichte ist kein Selbstzweck, sondern hilft es, die Gegenwart zu verstehen. Wenn Kurt Nelhiebel von der Sorge getrieben wird, Deutschland bzw. die deutsche Gesellschaft könnte abgleiten in einen ‚Sumpf des Vergessens‘, dann ist sein Adressat natürlich die heutige Gesellschaft – seine Generation, die Generationen seiner Kinder und Enkel. Er ist vielmals darauf angesprochen worden, daß sein Schreiben ja ein Teil deutscher Vergangenheitsbewältigung sei. Dieses Wort nun kann man unterschiedlich verstehen. Es impliziert für viele, die es benutzen, daß damit ein abschließbarer Vorgang gemeint sei, der irgendwann einmal zu Ende ist. Ich glaube nicht, daß Kurt Nelhiebel ihn so versteht, zumindest entspricht dies nicht dem Bild, das ich von ihm gewonnen habe. ‚Vergangenheitsbewältigung‘ ist ein Prozeß der historischen Selbstreflektion einer Gesellschaft, die sich in einem notwendigerweise öffentlichen Diskurs darüber Rechenschaft ablegt, welches Verhältnis sie zu ihrer Vergangenheit hat und ob ihre Geschichtsbilder eine reale Basis haben oder nur verschönernde Mythen sind. Das ist nicht krankhaft, sondern sehr gesund, denn nur wenn man sich über sich selbst und seine Vergangenheit Rechenschaft ablegt, kann man ein begründetes Selbstbewußtsein gewinnen. Insofern ist Vergangenheitsbewältigung in diesem Sinne eine sehr spezifische Form des kollektiven (und manchmal auch individuellen) Erinnerns.
1991 ist Kurt Nelhiebel das erste Mal wieder nach Tschechien in seine Heimat gefahren, und dies war zweifellos ein Anlaß zu einem sehr besonderen und persönlichen Erinnern. Er hat dies seitdem vielfach beschrieben, und ich will dies nicht wiederholen. So will ich abschließen mit einem Gedicht aus seiner Feder, das aus diesem Anlaß entstanden ist:
Lange suche ich im grauen
Gesicht der engen Gassen
nach einem Zeichen
der Vertrautheit, aber die Steine
sehen mich teilnahmslos an.
Kalt fährt es mir unvermittelt
durch’s Herz: hier
hast du nichts mehr verloren.
Draußen dann vor der Stadt
das unvergleichliche Bild
der böhmischen Landschaft.
Nirgendwo sonst entflammt
der September das Ahornlaub
so in leuchtendem Rot,
verströmt so verschwenderisch
die Erde ihr Blut
an den herbstlichen Himmel.
Wie in der Dünung eines gütigen
Ozeans wiegen rostfarbene Felder
sich von Hügel zu Hügel
und der frische Acker duftet
wie in den Tagen der Kindheit.
Behutsam legt die Erinnerung
ihren Arm um mich
und lässt mich die Kälte
des Abschieds vergessen.
Meine sehr verehrten Damen und Herrn, ehren wir mit Kurt Nelhiebel nicht nur den fruchtbaren Publizisten und Schriftsteller, ehren wir nicht nur den Historiker, sondern vor allem den aufrechten Menschen.
[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. August 2003.