Freude am Fliegen

Von der Freude am lautlosen Fliegen

Aus einem Rundfunk-Essay 1978

Die Freude am lautlosen Fliegen geht viele Wege. Einer davon führt in den Flugmodellbau, und damit in die Keimzelle der Luftfahrt, wie der Flugpionier Alexander Lippisch sich ausdrückte. Wer sich mit dem Fliegen beschäftigt, der rückt auch der Natur ein großes Stück näher. Er lernt die Sprache der Wolken kennen und das Orakel der Tauperlen im Gras.

Den Geheimnissen der Luftkraft nachzuspüren und sie technisch zu nutzen, ist immer noch faszinierend, obwohl sich der Mensch längst von der Erdenschwere befreit und den Arm ausgestreckt hat nach fernen Planeten. Deshalb wird der Wettbewerb auch künftig einen festen Platz im Leben der Modellflieger haben. Aber nicht von sportlichem Ehrgeiz soll hier die Rede sein, sondern vom glückhaften Erleben des lautlosen Fliegens in der Einsamkeit der Wiesen und Berge. Mein Segler schwebt immer noch in dem gewaltigen Luftstrom über dem Südwesthang der Wasserkuppe. Ehe ich die Landung vorbereite, will ich den Anblick noch eine Weile genießen.

Der Wind hat aufgefrischt. Ungestüm drängt er heran und presst die spröden Halme des Graspolsters dicht an den Boden. Rascher streichen im blassen Blau des Himmels die Wolkenschiffe über die Kuppen der Rhön. Ich muss meinen Segler schneller machen. Die stürmische Windsbraut treibt ihn sonst über meinen Kopf hinweg hangwärts. Das möchte ich nicht. Noch weiter schiebe ich den Trimmhebel am Sender nach vorn. Mit reduziertem Auftrieb stemmt sich das Flugmodell wieder dem Wind entgegen und jagt mit meinen Gedanken um die Wette.

Wieso hat es eigentlich so lange gedauert, bis der Mensch die Kunst des Fliegens beherrschte? Wahrscheinlich lag es daran, daran, dass er die Vogelwelt – angefangen vom Urvogel Archäopterix bis hin zum majestätisch kreisenden Adler – zu seinem Studienobjekt machte und damit in die Irre ging. Immer aufs Neue versuchte er – vergeblich – den Vögeln nachzueifern und deren bewegliche Flügel zu kopieren. An starre Flügel, die einfacher zu bauen waren und obendrein mehr Sicherheit boten, dachte der Mensch verhältnismäßig spät, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Aber es gab auch Hemmnisse anderer Art. Die frühchristliche Kirche war der Meinung, die Luft solle den Engeln und den Vögeln vorbehalten bleiben. Papst Clemens I. bezeichnete in den „Constitutiones“ jegliche Flugversuche als „Teufelswerk“. Zar Iwan III. bestimmte im 15. Jahrhundert: „Der Mensch ist kein Vogel und hat keine Flügel zu haben. Baut er sich dennoch hölzerne Flügel, so handelt er gegen die Natur. Wegen dieses Bündnisses mit dem Teufel wird der Erbauer geköpft … und seine Erfindung nach einer heiligen Messe verbrannt.“ Noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Flugenthusiasten von einem Chronisten der „Merkwürdigen Beiträge zu dem Wettlauf der Gelehrten“ als „ausschweifende Köpfe“ verhöhnt, die dem Gemeinwesen mehr schadeten als nutzten.

Dennoch hat der Wunsch, fliegen zu können, seine Faszination niemals verloren. Leonardo da Vinci prophezeite: „Der große ‚Vogel’ wird seinen ersten Flug unternehmen, er wird die ganze Welt mit Staunen und alle Schriften mit seinem Ruhm erfüllen.“ Für Otto Lilienthal bedeutete der erste frei fliegende Mensch „den Anfang einer neuen Kulturepoche“. In der Tat konnten Ignoranz und Vorurteile nicht verhindern, dass den geistigen Ursprüngen der Flugsehnsucht die Verwirklichung des Fluggedankens folgte. Und immer wieder spielte dabei das Flugmodell eine ausschlaggebende Rolle.

Der englische Wissenschaftler Sir George Cayley baute 1804 das erste Gleitflugmodell in der Geschichte der Luftfahrt. Er war es auch, der als erster erkannte, dass gewölbte Profile einen bedeutend höheren Auftrieb liefern als Tragflächen ohne Wölbung. Zugleich formulierte der Gelehrte die bis heute gültige Regel, jeden überflüssigen Widerstand zu vermeiden. Aber der Weg war noch lang. Neuen Entdeckungen folgten neue Rückschläge und Enttäuschungen, bis eines Tages endlich der Sprung des Menschen in den Luftraum gelang. Für den Segelflug geschah das hier, wo ich jetzt stehe, an den Hängen der Wasserkuppe in der Rhön.

Vielleicht lässt der steife Wind bald etwas nach, damit neben dem dynamischen auch thermischer Aufwind entstehen kann, der meinen Segler höher hinauf hebt. Etwas Geheimnisvolles umgibt diese vertikale Luftströmung. Immer wieder überfällt mich ungläubiges Staunen, wenn an Sommertagen am blauen Himmel unvermittelt ein weißes Wölkchen entsteht. Ich beneide den Bussard, der die aufsteigende warme Luft auch ohne Wolkensignal ortet und sich kreisend, ohne Flügelschlag, empor tragen lässt von dem himmlischen Fahrstuhl.

Beim Fliegen im norddeutschen Flachland habe ich den braun gefleckten Greifvogel als kundigen Freund und Fährtensucher schätzen gelernt. Sein Thermik verheißender Ruf treibt mich zur Eile, wenn ich auf dem Fluggelände draußen vor der Stadt Vorbereitungen für den Start meines Segelflugmodells treffe. Rascher lege ich dann die lange Hochstartleine aus und spanne sie so lange, bis sie straff wie eine Saite und das Gummiseil am anderen Ende zu reißen droht. Je schneller der Segler jetzt eine angemessene Höhe erreicht, desto wahrscheinlicher kann ich teilhaben am Spürsinn des Bussards. Nichts Schöneres als zusammen mit ihm in der Thermik zu kreisen. . .

Natürlich gibt es Wichtigeres und der gelegentliche Spott meiner Umwelt an meinem „kindlichen“ Vergnügen trifft mich zu Recht. Aber wen die Liebe zur Fliegerei einmal gepackt hat, der wird sie zeitlebens nicht los, auch wenn er – aus welchen Gründen auch immer – niemals selber ein Segelflugzeug steuern kann. Er schwingt sich auf den Flügeln der Phantasie empor und erlebt in Gedanken den köstlichen Rausch des Dahingleitens auf den Wogen des Luftmeeres.

Kurt Nelhiebel

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