Zweierlei Maß

Ungesühnte Blutjustiz

Vor 75 Jahren starben Dietrich Bonhoeffer und seine Mitstreiter – Der BGH sprach den hauptschuldigen Mörder frei

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Am 8. April 1945, einen Monat vor der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands, verurteilte ein Standgericht unter Leitung des Chefrichters beim SS- und Polizeigericht München, Otto Thorbeck, fünf Männer wegen Widerstandes gegen die NS-Herrschaft zum Tode durch den Strang. Am nächsten Tag wurden sie im Konzentrationslager Flossenbürg auf demütigende Weise getötet. Die Opfer mussten sich vor ihrem letzten Gang entkleiden und nackt unter den Galgen treten.

Es starben damals Pastor Dietrich Bonhoeffer, Admiral Wilhelm Canaris, Hauptmann Ludwig Gehre, Generalmajor Hans Oster und Generalstabsrichter Karl Sack. Sie wurden beschuldigt, von dem geplanten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gewusst und sich damit des Landes- und Hochverrats schuldig gemacht zu haben. Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde das Urteil gegen die Widerstandskämpfer durch das in Bayern erlassene Gesetz Nr. 21 vom 28. Mai 1946 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für nichtig erklärt und aufgehoben.

1955 verurteilte das Schwurgericht Augsburg den Leiter des Standgerichtsverfahrens, Otto Thorbeck, zu vier Jahren, und den Vertreter der Anklage, Walter Huppenkothen, Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt, zu sieben Jahren Zuchthaus. Beide legten Revision beim Bundesgerichtshof ein, der das Augsburger Urteil am 25. Mai 1956 aufhob und den Hauptbeschuldigten mangels Beweises vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freisprach. Er tat dies mit einer Begründung, die alles auf den Kopf stellte, was bis dahin als gesichertes Wissen über das Wesen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates galt und immer noch gilt.

Auf Thorbeck bezogen liest sich das im Einzelnen so: „Für die Frage, ob sich Dr. Thorbeck (…) schuldig gemacht hat ist nicht entscheidend, wie sich die Ereignisse vom April 1945 nach heutiger Erkenntnis darstellen. Eine solche rückschauende Wertung würde dem Angeklagten nicht gerecht werden. Bei der Beurteilung der strafrechtlichen Schuld (…) ist vielmehr ins Auge zu fassen, wie sich seine Aufgabe nach der Gesetzeslage und den sonstigen Gegebenheiten zur Tatzeit darstellte, mit der Unerbittlichkeit der damals geltenden Gesetze, denen er unterworfen war und gegen die die in Flossenbürg vor das Standgericht gestellten Widerstandskämpfer sich aufgelehnt hatten.

Ausgangspunkt dabei ist das Recht des Staates auf Selbstbehauptung. In einem Kampf um Sein oder Nichtsein sind bei allen Völkern von jeher strenge Gesetze zum Staatsschutz erlassen worden. Auch dem nationalsozialistischen Staate kann man nicht ohne weiteres das Recht absprechen, dass er solche Gesetze erlassen hat. (…)

Einem Richter, der damals einen Widerstandskämpfer wegen seiner Tätigkeit in der Widerstandsbewegung abzuurteilen hatte und ihn in einem einwandfreien Verfahren für überführt erachtete, kann heute in strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden, wenn er angesichts seiner Unterworfenheit unter die damaligen Gesetze nicht der Frage nachging, ob dem Widerstandskämpfer etwa der Rechtfertigungsgrund des übergesetzlichen Notstandes unter dem Gesichtspunkt eines höheren, den Strafdrohungen des staatlichen Gesetzes vorausliegenden Widerstandsrechts zur Seite stehe, sondern glaubte, ihn des Hoch- und Landesverrats (§ 57 Militärstrafgesetzbuch) schuldig erkennen und deswegen zum Tode verurteilen zu müssen.“

Über den Anklagevertreter Walter Huppenkothen heißt es, das Fehlen der Bestätigung des Urteils gegen die Widerstandskämpfer mache deren Tötung „schlechthin rechtswidrig“. Die Widerrechtlichkeit der Tötungen finde ihre Bestätigung in der mit den Geboten der Menschlichkeit völlig unvereinbaren Art, wie die Widerstandskämpfer ums Leben gebracht worden seien, „nämlich durch Erhängung in völlig unbekleidetem Zustand. (…) Durch seine Teilnahme an den ‚Hinrichtungen’ hat sich Huppenkothen (…) der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht.“

Was erfahren die Schüler in Deutschland über Dietrich Bonhoeffer und seine Mitstreiter  und was enthalten die Lehrpläne über den Umgang der deutschen Nachkriegsjustiz mit den Mördern in der Robe, die das Funktionieren des nationalsozialistischen Unrechtsstaates bis zur letzten Minute garantiert haben?

Lesetipp:  Conrad Taler, Zweierlei Maß – Freispruch für NS-Richter – Schuldspruch gegen DDR-Juristen. Neuauflage: Köln: PapyRossa, 2020.

Quelle: Weltexpresso, Frankfurt am Main, 8. April 2020


Auf der Schleimspur des Zeitgeistes

(Conrad Taler)

Wenn einer, der mit Mühe kaum
geklettert ist auf einen Baum,
schon meint, dass er ein Vogel wär,
so irrt sich der.
Wilhelm Busch

Was bleibt von Joachim Gauck, der sich in seinem Amt als Bundespräsident gesonnt und mit seinem Selbstbildnis als Pastor kokettiert hat? „Irgendwie war ich nicht der Typ eines Pastors“, sagte er von sich. „Schließlich sah ich so schlecht nicht aus, war dem weiblichen Geschlecht zugetan.“. Selbstgefällig ließ er sich als Bürgerrechtler feiern, obwohl er „nicht zu den oppositionellen Gruppen in der DDR“ gehört hat, wie der grüne Europa-Abgeordnete Werner Schulz zu Protokoll gab. Laut Spiegel (47/2014) besaß Gauck zwei DDR-Pässe und durfte zwischen 1987 und 1989 elfmal in den Westen reisen, ein Privileg, von dem andere nur träumen konnten. Am 19. Oktober 1989 beteiligte er sich erstmals an einer Demonstration gegen das SED-Regime, einen Tag nach dem Rücktritt des SED-Generalsekretärs Erich Honecker.

Über einen Listenplatz der Bürgerrechtler gelangte Gauck im März 1990 in das erste und einzige frei gewählte DDR-Parlament. Dort wandte sich deren Fraktion vehement gegen eine zu schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik. Joachim Gauck indes ging manches nicht schnell genug. Ein halbes Jahr später übernahm er das Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Am 17. April 1991 befasste sich das Zweite Deutsche Fernsehen in einer kritischen Dokumentation mit seiner Tätigkeit. Der Leiter der Sendung, Bodo Hauser, sagte zu Beginn: „Joachim Gauck hat über mehrere Stunden unkontrolliert seine eigene Akte eingesehen. Trotz seiner, schon vor dieser Sendung heute abgegebenen Erklärungen beantwortete er nicht die Frage, warum er alleine und unkontrolliert Einsicht nahm.“ Zehn Jahre hatte Gauck die Hand am Puls des Geschehens in der alsbald nach ihm benannten Behörde. Während dieser Zeit wurden 13.000 Akten als geheim eingestuft und an das Bundesinnenministerium abgegeben. Sie sind nie wieder aufgetaucht.

Umgeben vom Nimbus eines Kämpfers gegen den Kommunismus machte Joachim Gauck nach seiner Tätigkeit in der Stasi-Unterlagenbehörde mit Vorträgen und Medienaktivitäten von sich reden. Am 28. März 2006 hielt er auf Einladung der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart einen Vortrag zu dem Thema „Welche Erinnerungen braucht Europa?“ und breitete dabei seine, wie er sagte, „gewandelte Sicht auf den Holocaust“ aus. Danach gehören der „Gulag, Auschwitz oder Hiroshima“ als Phänomene einer antihumanen gottlosen Zivilisation zusammen. Gauck berief sich dabei auf den polnisch-jüdischen Soziologen Zygmunt Bauman. „Folgen wir ihm“, setzte er hinzu, nicht ohne das Ungeheuerliche dieses Vergleichs durch die Forderung nach dem „Zulassen von Scham und Trauer“ zu vertuschen.

2008 gehörte Gauck zu den Erstunterzeichnern der „Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus“, die eine Verurteilung der kommunistischen Verbrechen verlangte und sich unter anderem die Ausrufung eines gemeinsamen Gedenktages für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus zum Ziel setzte. Für den Leiter des Jerusalemer Simon-Wiesenthal-Centers, Efraim Zuroff, war die Prager Erklärung „das Manifest einer Kampagne, die die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust neu schreiben“ wolle. Unbeeindruckt von dem vernichtenden Urteil nominierten SPD und GRÜNE den an dieser Kampagne beteiligten Joachim Gauck 2012 als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, und er wurde gewählt. In Frankreich hätte so einer keine Chance gehabt. Der rechtspopulistische Front National schloss seinen Gründer Jean-Marie Le Pen aus der Partei aus, weil er die Gaskammern der Nazis als „Detail der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ abgetan hat.

Da hatte Gauck längst zu seinem Höhenflug als Wegbereiter des Militärischen in der deutschen Außenpolitik angesetzt „Manchmal kann auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein“, verkündete er 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz und mokierte sich über jene, „die Deutschlands historische Schuld benutzten, um dahinter Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit zu verstecken“. In Anspielung auf die Forderung Gaucks, im Kampf um die Menschenrechte auch zu den Waffen zu greifen, fragte die Süddeutsche Zeitung am 16. Juni 2014, warum die früher geübte Zurückhaltung abgelegt werde. „Weil das Trauma von Schuld und ‚Nie wieder Krieg’ ins Geschichtsbuch gehört? Gauck sagte es nicht, aber es klingt bei seinen Worten mit: dass irgendwann mal Schluss ist. Das ist der eigentliche Sprengstoff seiner Botschaft.“

Die Israelis beruhigte Gauck am 50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem Satz: „Wir werden nicht zulassen, dass das Wissen um die besondere historische Verantwortung Deutschlands verblasst.“ Auf seine kritische Haltung gegenüber der russischen Regierung an gesprochen, antwortete er am 2. Mai 2015: „Anders als manche Beobachter mutmaßen (habe ich) überhaupt kein Problem mit Russland und seinen Menschen.“ Nur – besucht hat er Russland als Bundespräsident nicht. 98 Auslandsreisen hat Gauck während seiner fünfjährigen Amtszeit unternommen. Sie führten ihn nach Äthiopien, Kolumbien, Peru und nach Südafrika, nicht aber nach Russland, in jenes Land, das wie kein anderes unter dem Vernichtungswillen deutscher Herrenmenschen gelitten hat

Bremen, 11. Februar 2017, Vorabdruck aus: Ossietzky, 4 (2017).


Über die innere Unordentlichkeit der Deutschen

(Conrad Taler)

Dieselben Leute, die anderen Gleichmacherei und Indoktrination vorwerfen, möchten dem vereinten Europa eine einheitliche Erinnerung verordnen. Wie die aussehen soll, hat die lettische Europa-Abgeordnete und ehemalige Außenministerin ihres Landes, Sandra Kalniete, deutlich gemacht. Nach ihren Worten sind Nazismus und Kommunismus »gleich kriminell« gewesen. Es dürfe niemals eine Unterscheidung zwischen ihnen geben, »nur weil die einen auf der Seite der Sieger gestanden« haben. Danach stehen also die sowjetischen Soldaten, die Auschwitz befreit haben, moralisch auf derselben Stufe, wie die SS-Schergen, die das Lager bis dahin bewachten.

In Wirklichkeit geht es selbstverständlich um etwas anderes: Der Kommunismus als Menschheitsidee, die die bestehenden Besitzverhältnisse in Frage stellt, soll tödlich getroffen werden, indem man sie gedanklich an den Holocaust kettet. Die große Auseinandersetzung mit der kommunistischen Weltmacht China wirft ihre Schatten voraus. Der plumpe Antikommunismus aus der Zeit des Kalten Krieges hilft da nicht weiter. An seine Stelle soll, wie Bundespräsident Joachim Gauck vorgeschlagen hat, ein »aufgeklärter Antikommunismus« treten, der aus der »Erfahrung von Willkür und Unrecht« entstanden sei, obwohl das letztlich Jacke wie Hose ist. Jedenfalls hält er ihn für ein »Erfordernis zur Verteidigung unserer politischen Kultur, und – aus Empathie mit den Opfern – als ein Gebot des Humanismus«.

In der Tat erwarten die Opfer des Stalinschen Terrors völlig zu Recht, daß auch ihr Leid gewürdigt wird. Warum das allerdings an einem gemeinsamen Gedenktag für die Opfer aller totalitären Regime geschehen soll, den das Europäische Parlament vor fünf Jahren beschlossen hat, leuchtet nicht recht ein. Dazu sind die Lebenserfahrungen der Menschen in Ost und West wohl doch zu verschieden. Nicht von ungefähr haben sich bislang nur fünf der 28 EU-Mitgliedsstaaten der Idee angeschlossen. Zu den Initiatoren des gemeinsamen Gedenktages gehört der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, der von der CSU ins Europa-Parlament entsandt worden ist. Sein Beitrag zur Einebnung der europäischen Geschichte besteht darin, die Vertreibung der Deutschen als »gezielten Völkermord« zu denunzieren und dem millionenfachen Mord an den Juden gleichzustellen.

Persönliche Gefühle sollten niemals zu politischen Zwecken mißbraucht werden. Das hat mich immer abgestoßen. Ich habe auch nicht verstanden, daß Helmut Kohl 17 Jahre nach dem Untergang des sogenannten Dritten Reiches erklärte, der zeitliche Abstand sei noch zu kurz für ein abschließendes Urteil über den Nationalsozialismus. 17 Jahre nach dem Ende der DDR hat niemand gesagt, der zeitliche Abstand sei noch zu kurz für ein abschließendes Urteil über den dort praktizierten Sozialismus. Und es hat auch niemand danach gefragt, warum es so etwas wie die Montagsdemonstrationen gegen die kommunistische Herrschaft in der DDR nicht auch gegen die Nazidiktatur gegeben hat. Es liegt wohl an der inneren Disponiertheit eines Großteils der Deutschen. Auch in anderen Ländern hat es nach dem ersten Weltkrieg Massenarbeitslosigkeit gegeben, aber nur in Deutschland sind Millionen einem Hetzer wie Hitler nachgelaufen.

Der ungarische Schriftsteller und Dramatiker Sándor Márai spricht in seinem Roman »Bekenntnisse eines Bürgers« von einer »inneren Unordentlichkeit« der Deutschen: »Heimlich befiel mich in dieser langen Nacht schon das Heimweh nach dem anderen, dem bekannteren, heimischeren, dem treulos verlassenen Europa, dem anderen Deutschland. Ja, vielleicht waren die Deutschen wirklich gefährlich für Europa mit ihrem ungesühnten mythischen Schuldbewußtsein, ihrem erbarmungslosen Ordnungsdrang und ihrer inneren Unordentlichkeit. Doch hinter diesem pedantischen und wirren, säbelrasselnden und in seiner Furcht kämpferischen und manisch organisierenden Deutschland dämmerte deutlich und unauslöschlich in sanftem Schein das andere, und wer wußte, wer wagte zu sagen, welches das wahre ist.« (Piper Verlag, München 2000, aus dem Ungarischen von Hans Skirecki).

Wie ein roter Faden zieht sich die »innere Unordentlichkeit« der Deutschen durch die Geschichte. Sie bewirkt jene Ambivalenz im Urteil unserer europäischen Nachbarn, die manche als Undankbarkeit empfinden. Irritiert stellte die Süddeutsche Zeitung unlängst fest: »Je mehr Deutschland den Takt angibt in der Gemeinschaft, desto mehr Widerstand provoziert es.« Wenn es um Auslandseinsätze geht, sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Da sollen wir den Takt angeben, da sollen wir uns einmischen, auch militärisch. Wahrscheinlich weil es dann für die anderen billiger wird. Nach den Worten von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in der SZ ist Deutschland »zu groß, um die Weltpolitik nur zu kommentieren«. Es werde »zu Recht von uns erwartet, daß wir uns einmischen«.

Bei seinem Parteifreund Rudolf Scharping hörte sich das einst anders an. »Das wollen wir nicht mitmachen«, sagte er als SPD-Vorsitzender zu der Forderung, »die Deutschen müßten, wie alle anderen auch, überall auf der Welt militärisch intervenieren können«. Das war 1993. (FR 9.10.1993) Wenige Jahre später schickte ein Sozialdemokrat deutsche Soldaten nach Afghanistan, weil am Hindukusch Deutschlands Sicherheit verteidigt werden mußte.

Inzwischen hat eine CDU-Verteidigungsministerin und Mutter von sieben Kindern die Mütter in Deutschland darauf vorbereitet, daß ihre Söhne und Töchter nach Afrika geschickt werden könnten, um dort die Sicherheit Deutschlands zu verteidigen und Terroristen zurückzudrängen.

Was würde sich Ursula von der Leyen vergeben, wenn sie hinzufügte, daß es auch um anderes geht, in Mali beispielsweise um Uran, das Frankreich für seine Atomkraftwerke dringend benötigt. Oder darum, der chinesischen Konkurrenz bei der Ausbeutung der afrikanischen Bodenschätze Paroli zu bieten. Das kommunistische China ist inzwischen größter Handelspartner einer Vielzahl afrikanischer Staaten und – was einem schier den Atem verschlägt – größter Kreditgeber der USA. 2012 stand die westliche Führungsmacht in Peking mit 1,17 Billionen Dollar in der Kreide. Ich gehöre nicht zu denen, die Militäreinsätze generell ablehnen, vorausgesetzt sie beruhen auf einem Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit muß die internationale Staatengemeinschaft in der Lage sein, einer Bedrohung des internationalen Friedens wirksam zu begegnen.

Leider hat man sich nicht immer an die Regeln gehalten. Daher das Unbehagen vieler Menschen gegenüber Auslandseinsätzen. Mit ihren Überlegungen für ein – wie es verharmlosend heißt – verstärktes weltweites Engagement ignoriert wieder einmal eine Große Koalition wie seinerzeit bei den Notstandsgesetzen den Mehrheitswillen der Bevölkerung. Die wahren Gründe des Geschehens erfahren wir in der Regel erst Jahre später.

So wird das auch beim Konflikt um die Ukraine und die Krim sein. Als sich der Kosovo 2008 von Serbien abspaltete, sah der sogenannte Westen keinen Grund zur Kritik. Er hatte das Ganze schließlich inszeniert. Der Internationale Gerichtshof befand in einem Rechtsgutachten, die Abspaltung sei völkerrechtlich nicht zu beanstanden. Das veranlaßte den Völkerrechtler Professor Michael Bothe zu der Feststellung, doppelte Standards, die je nach Sympathie der einen oder anderen Seite Rechtsmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit bescheinigen, dürfe es nicht geben (SZ 6.3.2014).

Kürzlich las ich in der Süddeutschen Zeitung, die Abspaltung eines Landesteils sei nur dann legitim, wenn sie einen Notstand beseitige. Eine Teilbevölkerung dürfe sich von ihrem Staat trennen, wenn sie so bösartig unterdrückt und ihrer ethnischen Eigenheit beraubt werde, daß eine friedliche innerstaatliche Lösung ausgeschlossen sei. Davon könne auf der Krim keine Rede sein. Das mag wohl zutreffen. Daß mit dieser Argumentation die Abspaltung des Sudetengebietes von der Tschechoslowakei durch Hitler für legitim erklärt wird, ist dem Verfasser entgangen, mir als Betroffenem aber nicht (SZ 14.3.2014).

»Menschen, ich hatte Euch lieb, seid wachsam«, mahnte der tschechische Schriftsteller Julius Fučik, bevor er 1943 in Berlin vom Volksgerichtshof unter Vorsitz von Roland Freisler zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Wir sollten uns gelegentlich daran erinnern.

(Auszug aus der Rede, die Conrad Taler (Kurt Nelhiebel) bei der Entgegennahme des Kultur- und Friedenspreises der Villa Ichon am 15. März 2014 in Bremen gehalten hat. Die Redaktion »Ossietzky« gratuliert zum Preis.)

Ossietzky, 9 (2014)…



Grass und Rosenberg

In seinem neuen Gedichtband »Eintagsfliegen« bezeichnet Günter Grass den wegen Spionage zu 18 Jahren Haft verurteilten israelischen Nukleartechniker Mordechai Vanunu als Vorbild und Helden. Zwischen den Zeilen ruft er – wie zu lesen war – überall in der Welt zum Verrat militärischer Geheimnisse auf, wo Vernichtungswaffen hergestellt werden. Über eine solche Fürsprache aus der Bundesrepublik Deutschland hätten sich Ethel und Julius Rosenberg sicher gefreut, als sie 1951 in den USA wegen vermeintlicher Atomspionage zugunsten der Sowjetunion zum Tode verurteilt wurden. Aber das jüdische Ehepaar hatte eine unpassende politische Gesinnung – beide waren Kommunisten. Für solche Leute machte man sich während des Kalten Krieges nicht gern stark. Ethel und Julius Rosenberg starben am 19. Juni 1953 ungeachtet weltweiter Proteste auf dem elektrischen Stuhl. Wer wird ihnen ein Gedicht zum 60. Todestag schreiben?
Ossietzky, „Bemerkungen“, 21 (2012)…


Die Doppelmoral der Stasijäger

(Conrad Taler)

Gelinde gesagt klingt alles ungereimt und verbiestert, was der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn, Anfang Oktober im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung von sich gegeben hat. Seine Äußerungen dürfen gleichwohl nicht unkommentiert bleiben. Einerseits findet es Jahn ganz toll, daß Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes nach dem Willen der schwarz-gelben Bundestagsmehrheit noch bis zum Jahr 2019 daraufhin überprüft werden, ob sie Verbindung zum Ministerium für Staatssicherheit der DDR hatten, andererseits geht es ihm, wie er sagte, um ein »Klima der Versöhnung«. Wie das in einer Atmosphäre des von ihm selbst geschürten Mißtrauens entstehen kann, bleibt sein Geheimnis.

Ebenso widersprüchlich ist seine Haltung gegenüber den 45 ehemaligen Stasileuten in der Stasi-Unterlagen-Behörde. Einerseits sollen sie auf seinen Wunsch hin aus der Behörde entfernt werden, andererseits möchte er sie aber auch nicht diskreditiert sehen. Die Betroffenen arbeiten als Angestellte im Wachdienst oder im Archiv und haben sich während ihrer Stasizugehörigkeit offensichtlich nichts zu Schulden kommen lassen. Wäre es anders, hätte man sie längst gefeuert. Mit Besuchern, die sich durch ihre Anwesenheit provoziert fühlen könnten, kommen sie nicht in Berührung. Joachim Gauck und Marianne Birthler, in Sachen Stasi alles andere als Weicheier, haben nie ein Drama aus der Sache gemacht. Das änderte sich erst, als Roland Jahn kam. In seiner Antrittsrede im März 2011 verkündete er: »Jeder ehemalige Stasi-Mitarbeiter, der in der Behörde angestellt ist, ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer.«

Als Jahn im Verlauf des Interviews danach gefragt wurde, ob die Stasi-Unterlagen-Behörde ewig weiter bestehen solle, giftete er zurück, die Notwendigkeit von Aufklärung und Aufarbeitung werde es »ewig geben«. Den Einwand, daß es mit Aufklärung wenig zu tun habe, wenn einzelne Personen zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer diskreditiert würden, obwohl ihr einziges Vergehen darin bestanden habe, bei der Stasi als Kraftfahrer oder Archivar unter Vertrag gestanden zu haben, ließ Jahn nicht gelten. »Die haben alle einen Eid geschworen auf eine Organisation, die zur Unterdrückung der Bevölkerung da war, zum Machterhalt einer Diktatur.« Auf die ergänzende Frage, ob er eine Rehabilitierung ausschließe, erwiderte er sichtlich genervt: »Ich weiß gar nicht, warum Sie und andere Medien so viel über die 45 Mitarbeiter reden, die ja nicht entlassen, sondern lediglich in eine andere Behörde versetzt werden sollen.«

Den historischen Hintergrund der Frage nach den Aussichten einer Rehabilitierung ehemaliger Stasimitarbeiter hat Jahn anscheinend gar nicht begriffen. Auch alle Mitglieder der NSDAP hatten einen Eid auf eine Organisation geleistet, die zur Unterdrückung der Bevölkerung und zum Machterhalt einer Diktatur da war; dennoch bekleideten viele von ihnen schon bald nach Kriegsende höchste Positionen in Staat und Gesellschaft, angefangen von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und den Bundesministern Gerhard Schröder und Theodor Oberländer bis hin zum Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Erwin Schüle, und dem Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichtes, Fritz Werner.

Jahns unversöhnliche Haltung deckt sich – ebenso wie seine Doppelmoral – mit der Haltung des harten Kerns der schwarz-gelben Mehrheit im Bundestag. »Wir wollen keinen Schlußstrich«, erklärte die CDU-Abgeordnete Beatrix Philipp am 30. September bei der Verabschiedung der 8. Novelle zum Stasi-Unterlagen-Gesetz, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, weshalb ihre Partei, angeführt von Konrad Adenauer, sich gegenüber ehemaligen Nazis ganz anders verhalten hat. Als der CDU-Vorsitzende und Bundeskanzler 1952 im Parlament wegen der vielen Nazidiplomaten im Auswärtigen Amt Rede und Antwort stehen mußte, hielt er laut Bundestagsprotokoll vom 22. Oktober 1952 seinen Kritikern entgegen: »Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei einmal Schluß machen.« Da waren seit dem Ende der Nazityrannei gerade mal sieben Jahre vergangen, und nicht nur im Auswärtigen Amt, sondern auch sonst überall saßen ungezählte Helfer Hitlers wieder fest im Sattel. 20 Prozent der Planstellen im öffentlichen Dienst mußten aufgrund des sogenannten 131er-Gesetzes ab 1951 für ehemalige Nazibeamte frei gehalten werden, und niemand fragte danach, wie sich die Naziopfer fühlten, wenn sie bei Behördengängen oder vor Gericht ihren ehemaligen Peinigern begegneten.

Der Schlußstrichappell des ersten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland wurde später als Beitrag zur inneren Aussöhnung gedeutet und von Historikern entsprechend gewürdigt. Was hat Helmut Kohl eigentlich daran gehindert, als »Kanzler der deutschen Einheit« sieben Jahre nach dem Ende der DDR einen ähnlichen Beitrag zur inneren Aussöhnung zu leisten und zu erklären: »Wir sollten jetzt mit der Stasiriecherei Schluß machen«?

Dem Vernehmen nach hat Candide, der naive Romanheld Voltaires, den braven Soldaten Schwejk im Himmel gefragt, weshalb auf der besten aller Welten die einen so und die anderen so behandelt würden. Schwejk soll geantwortet haben: »No, die was die Nazis waren, die haben den Kapitalisten alles gelassen, und die, was die Kommunisten sind, haben da, her‘ ich, andere Ideen.« Candide wunderte sich, daß ihm das noch nicht aufgefallen sei. Darauf Schwejk: »Da bist du nicht der Einzige.«

Ossietzky, Nr. 21 (2011)…


Richter Erblast

(Conrad Taler)

Richter-Erblast

Darin waren sich nach dem Untergang der DDR fast alle einig: wenn es die deutsche Justiz schon nicht fertiggebracht hatte, auch nur einen einzigen Nazirichter rechtskräftig zu verurteilen, dann sollten jetzt wenigstens die ehemaligen SED-Richter für begangenes Unrecht ordentlich büßen. Aber inzwischen ist manch einer kleinlaut geworden, beispielsweise der langjährige Sprecher der Zentralen Erfassungsstelle für DDR-Unrecht in Salzgitter, Hans-Jürgen Grasemann. Hatte er im Oktober 1990 mit den Worten, in der DDR seien „wirklich furchtbare Juristen“ am Werk gewesen, die nicht nur „unbotmäßig harte Urteile gefällt, sondern auch Recht gebeugt“ hätten (1), zum Halali geblasen, äußerte er sich kaum zwei Jahre später ziemlich zurückhaltend über die Erfolgsaussichten der erstrebten Abrechnung mit der DDR-Justiz. Auf einem Historikerkongreß in Hannover nannte er es „besonders schwierig“, frühere DDRRichter wegen Rechtsbeugung zu belangen (2).

Genau so ist es, und all jene, die nach der Vereinigung der Teilstaaten so etwas wie juristische Wiedergutmachung versprachen, hätten es wissen können: die ehemaligen Richter des Arbeiter- und Bauernstaates werden heute zu Nutznießern höchstrichterlicher Entscheidungen in Verfahren gegen ehemalige Nazirichter. Da vor dem Gesetz alle gleich sind, entkommen jetzt Richter der einstigen DDR durch dieselben juristischen Schlupflöcher, die vormals für Hitlers Blutrichter bestimmt waren.

Richter können wegen richterlicher Tätigkeit nur verurteilt werden, wenn sie sich einer Rechtsbeugung schuldig gemacht haben. …

Anmerkungen

(1) Frankfurter Rundschau, 23.10.1990.
(2) Frankfurter Rundschau, 28.09.1992.

Erschienen in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 4 (1994), S. 405-407.


Eine gewisse Rechtsblindheit

O-Ton Roland Freisler: „…alle vier haben also, ehrlos für immer, statt treu wie das ganze Volk dem Führer folgend für unser Leben und unsere Freiheit zu kämpfen, alles was wir sind und wofür wir leben, das Opfer unserer Krieger, Volk, Führer und Reich, an unsere Feinde verraten. Sie werden mit dem Tode bestraft.“

So hörte er sich an, der Vorsitzende des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs Roland Freister, wenn er Urteile gegen Angeklagte Widerstandskämpfer verkündete. Dieser Gerichtshof hatte nach dem Eingeständnis der damaligen Machthaber nicht die Aufgabe, Recht zu sprechen, sondern Gegner des Regimes zu vernichten. Das Ergebnis waren Justizmorde, begangen von Richtern und Staatsanwälten, denen die Durchsetzung des Nazi-Ideologie höher stand, als Recht und Gerechtigkeit. Sie ließen sich zu „Instrumenten des Terrors“ machen, wie der früherer Generalbundesanwalt Dr. Max Güde es einmal formulierte.

Hunderte dieser missratenen Jünger Justitias wurden nach dem Krieg in den Justizdienst der Bundesrepublik übernommen. Ihnen kam zu statten, dass mit dem Aufkommen des Kalten Krieges zwischen Ost und West antikommunistische Gesinnung als ausreichender Nachweis demokratischer Verlässlichkeit betrachtet wurde. Welchen Herren diese Juristen vorher bedient hatten, das zeigen exemplarisch die Kampfansagen des Naziführers Hermann Göring an jedwede Gerechtigkeit:

O-Ton Hermann Göring: „Meine Maßnahmen die werden nicht angekränkelt werden durch irgendwelche juristischen Bedenken, meine Maßnahmen, die werden nicht angekränkelt werden durch irgendeine Bürokratie, sondern hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts.“

Der da zum Rechtsbruch aufrief und ganz ungeniert den Terrorismus zur Richtschnur staatlichen Verhaltens deklarierte, den stellte niemand vor Gericht. Die meisten Richter und natürlich auch die Staatsanwälte fanden nämlich nichts dabei, dass nun mit den Marxisten, Juden und auch Intellektuellen endlich Schluss sein sollte. Und so sahen dann auch die Urteile aus. Tausende von Menschen wurden gnadenlos dem Henker überliefert, oftmals nur wegen einer harmlosen Äußerung, die den Machthabern missfiel.

Ungeachtet eines Gebirges von Schuld

Ungeachtet eines Gebirges von Schuld und Unheil hat es die Justiz der Bundesrepublik nicht zuwegegebracht, auch nur einen einzigen dieser Mörder in der Robe rechtskräftig zu verurteilen. Zu Beginn dieser Woche wurden nunmehr die Aken für immer geschlossen, weil die Verdächtigen wegen des langen Zeitablaufs inzwischen allesamt nicht mehr prozessfähig sind. Frühere Verfahren scheiterten, weil der Bundesgerichtshof als oberste Instanz entschieden hatte, daß ein Richter wegen seiner beruflichen Tätigkeit nur dann belangt werden kann, wenn ihm vorsätzliche Rechtsbeugung nachgewiesen wird. Das geht nur, wenn der Beschuldigte ein entsprechendes Geständnis ablegt, und das hat keiner getan.

Als vor mehreren Jahren neue Ermittlungen gegen ehemalige Angehörige des Volksgerichtshofes eingeleitet wurden, erklärte der damalige Berliner Justizsenator Gerhard Meyer in Anspielung auf eine Floskel in Todesurteilen, die Justiz laufe Gefahr, selbst mit dem Attribut ehrlos belegt zu werden, wenn es ihr nicht gelänge, dieses dunkle Kapitel ihrer justitiellen Vergangenheit aufzuarbeiten. Dieser fall ist nun eingetreten.

Bundesjustizminister hans Engelhard zog daraus das Fazit, dass die geistige Auseinandersetzung mit der Gewaltherrschaft und dem unheilvollen Beitrag von Juristen dazu jetzt erst recht weitergehen müsse. Wie sagte doch einst im Bundestag der SPD-Abgeordnete Adolf Arndt?

O-Ton Adolf Arndt: „Ja, meine Damen und Herren, es ist hier so etwas leichthin gesagt worden, das alles kehre doch nicht wieder. Niemand kann in der Geschichte für ein Volk die Hand ins Feuer legen, dass Massaker nicht wieder vorkommen.“

Radio Bremen, Thema NS-Richter, 25. Oktober 1986


Zum Urteil im Thälmann-Prozess

(Conrad Taler)

Mehr als 23 Jahre hat es gedauert, ehe die Justiz der Bundesrepublik Deutschland zu einem Urteil in Sachen Thälmann gekommen ist. In dieser Zeit wächst ein Kind heran und wird erwachsen. Wer von den Juristen weiß überhaupt etwas anzufangen mit dem Namen des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Deutschlands aus der Zeit der Weimarer Republik? Damals verfügten die Kommunisten über eine Massenbasis bei den Wählern. Kurz vor der „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten waren sie mit 100 Abgeordneten im Reichstag vertreten; sie waren damit fast so stark wie die Sozialdemokraten. Elf Jahre lang wurde Ernst Thälmann von den Nazis gefangengehalten, ehe er im Konzentrationslager Buchenwald gewaltsam den Tod fand.

Wegen Beihilfe zum Mord an dem früheren Vorsitzenden der KPD wurde jetzt der pensionierte Lehrer Wolfgang Otto zu vier Jahren Haft verurteilt. Angesichts der Beweisschwierigkeiten in Prozessen wegen NS-Verbrechen grenzt es fast an ein Wunder, dass überhaupt eine Verurteilung zustandekam. Das Gericht in Krefeld stufte den Angeklagten als Schreibtischtäter ein, so wie einst die Israelis den Organisator des Massenmords an den Juden, Adolf Eichmann, klassifiziert hatten. Es folgte mit seinem Urteil dem Antrag des Bremer Rechtsanwalts Heinrich Hannover als Vertreter der Nebenkläger. Ohne seine Hartnäckigkeit, so heißt es, wäre der Mittäter an der Ermordung Thälmanns niemals auf die Angeklagtenbank gekommen.

Eingebunden in die politische Wirklichkeit

Obwohl das Gericht nach rein rechtlichen Kriterien zu entscheiden hatte, ist sein Spruch eingebunden in die politische Wirklichkeit des Nebeneinanders von zwei deutsche Staaten. Ein Freispruch in der Mordsache Thälmann hätte wahrscheinlich in der DDR manches politische Porzellan zerschlagen, denn dort ist Thälmann eine Symbolfigur des antifaschistischen Deutschlands. Vor diesem Hintergrund wirkt die Freiheitsstrafe für den früheren SS-Mann Otto wie ein Signal des guten Willens, so wie einst 1968 am Beginn der Aussöhnung mit dem Osten die Wiederzulassung einer kommunistischen Partei in der Bundesrepublik. Am Elend der justizmäßigen Aufarbeitung der Vergangenheit ändert das freilich nichts. Fast jedes zweite Verfahren wegen NS-Verbrechen endete bislang mit einem Freispruch, weil man sich zulange Zeit gelassen hat, die Schuldigen zu greifen. Das ist ein Kapitel für sich. Guten Morgen!

Radio Bremen, Kurz gefasst, 15. Mai 1986


BGH zu Volksverhetzung

Bislang hat es noch niemand fertiggebracht, in Sichtweite eines Polizeibeamten ausländerfeindliche Parolen an die Wände zu schmieren. Da fühlt auch der schlimmste Übeltäter sein Gewissen schlagen und flüchtet sich in den Schutz der Dunkelheit. Zu solcher Vorsicht besteht fortan kein Grund mehr. Der Bundesgerichtshof hat nämlich entscheiden, dass die öffentliche Verbreitung von Parolen wie „Ausländer raus“ oder „Türken raus“ nicht in jedem Fall den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt.

Auch Schmierereien wie „Tötet Brand, hängt Werner“ betrachtet der Gerichtshof nicht als „öffentliche Aufforderung zu Straftaten“, denn es bleibe offen, „ob der Tod durch eine strafbare Handlung herbeigeführt werden“ solle. Das bloße Gutheißen einer Straftat sei nicht mit einer Aufforderung dazu gleichzusetzen.

Verständlicherweise ist diese Haltung bei den Sozialdemokraten in Bonn auf scharfe Kritik gestoßen. Aber der Karlsruher Spruch verdient Aufmerksamkeit weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus. Die Meinung des Gerichts, die erwähnten ausländerfeindlichen Parolen erfüllten nur dann den Tatbestand der Volksverhetzung, wenn damit die „Aufforderung zu Gewalt und Willkürmaßnahmen gegen Teile der Bevölkerung“ verbunden sei, ist wirklichkeitsfremd. Wer solche und ähnliche Parolen liest, spürt den hass, den sie verströmen. Da wird Feindschaft gesät zwischen Menschen verschiedener Sprache und es wird jene vergiftete Atmosphäre beschworen, in der dann schon Kinder in ihrem ganzen Unverstand Hakenkreuze an die Wände malen und „Türken raus“ auf die Sitzlehnen in der Straßenbahn kritzeln.

Am Anfang stand die Parole „Juden raus“

Niemand sollte vergessen, dass am Anfang der schlimmsten Naziverbrechen die Parole „Juden raus“ stand. Vor diesem Hintergrund verbietet sich jede Milde und Nachsicht gegenüber neuen Anflügen einer menschenverachtenden Haltung. Da müssen auch rechtlich Zeichen gesetzt werden. Was dem Bundesgerichtshof zum Thema Volksverhetzung eingefallen ist, weckt die Erinnerung an das Versagen der Justiz gegenüber den rechtsbrecherischen Absichten und Taten der nationalsozialistischen Machthaber. Natürlich haben wir heute andere Richter, aber wie sagte doch einer von ihnen, der ehemalige Verfassungsrichter Martin Hirsch: „In ihrer konservativen Grundhaltung, in ihrem positivistischen denken und in ihrer Neigung zu gewissen juristisch-rabulistischen Kunststückchen hat sich nur wenig geändert.“

So ist es, leider. Guten Morgen.

Radio Bremen, Kurz gefasst, 4. Mai 1984


Jeder Dritte kommt frei

Eine Bilanz der letztjährigen NS-Vebrecher-Prozesse

Jeder_dritte_kommt_frei

Prozesse wegen NS-Vebrechen bergen für die Beschuldigten kein allzu großes Risiko. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber sie ruft trotzdem immer wieder Unbehagen hervor, wenn man sich durch weitere Tatsachen bestätigt sieht. Die Erfahrungen des letzten Jahres besagen, dass etwa jeder dritte Angeklagte den Gerichtssaal als freier Mann verlässt, weil das Gericht entweder auf Freispruch erkennt oder weil das Verfahren eingestellt wird.

Zwar gilt der Grundsatz, dass vor jedem Gesetz jeder gleich ist, aber es hat doch den Anschein, als genössen sogenannte Regimenter gegenüber „normalen“ Kriminellen einige Vorteile. Da wurde zum Beispiel Ende September in Hanau (Hessen) ein Hilfsarbeiter wegen Mordes zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt, weil er einen Bauarbeiter mit einem Zimmerhammer erschlagen hatte. Ein ehemaliger Zollsekretär, der 1943 einen flüchtenden Uden hinterrücks erschossen hatte, kam im Februar bei einem NS-Verbrecherprozess in Hamburg mit einem Freispruch von der Mordanlage davon.

In beiden Fällen wurde ein Menschenleben ausgelöscht, aber die Richter kamen zu völlig verschiedenen Urteilen. In dem einen Fall wurde die Höchststrafe verhängt, in dem anderen gab es einen Freispruch von der Mordanklage. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Diese Gegenüberstellung ist nicht als Urteilsschelte an dem Hanauer Spruch gedacht. Für Mord lautet die Strafe „Lebenslänglich“, daran gibt es nichts zu rütteln. Hier geht es um das Hamburger Urteil. …

Stimme der Gemeinde, Frankfurt am Main, 1. Februar 1971

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